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Katharina Lukas

Autorin

Was am Ende übrig bleibt – Tagebuch am Pflegebett

Was am Ende übrig bleibt – Tagebuch am Pflegebett

Die Hoffnung und das Lachen Mein Buch „Was am Ende übrig bleibt – Tagebuch am Pflegebett“ ist eine ganz persönliche Autobiographie, die meine Erfahrungen bei der Pflege meines Vaters und meiner Großmutter erzählt. Eindringlich und berührend, heiter und nachdenklich.

Was am Ende übrig bleibt

Tagebuch am Pflegebett

Von Katharina Lukas

 

I

 

Samstag, der 5. Januar 2008

Heute habe ich eine leibhaftige Seele erblickt. Sie schaute aus meiner Oma heraus. Oma weiß nicht mehr, ob Sommer oder Winter ist. Sie vergisst während des Essens, dass sie gerade isst, und erkennt mich oft erst, wenn ich mich namentlich vorstelle. Und sie läuft. Ohne Pause geht sie, schlurfend, den ganzen Tag immer dieselbe Strecke ab. Vom Bett zum Tisch, vom Tisch zur Tür. Vor einigen Monaten noch wanderte sie manchmal auch hinaus auf den Hof zur Garage. Dort hatten wir einen Sessel hingestellt, damit sie rasten konnte. Denn Oma ist nicht aufzuhalten. Sie versteht nicht, warum sie nicht laufen sollte, und wenn man sie dazu bringt, sich hinzusetzen, hat sie nach wenigen Minuten den Grund dafür vergessen. Eine Pflegerin hat mir das so erklärt: „Sie müssen sich vorstellen, Ihre Oma ist gerade in einer fremden Stadt und sucht das Parkhaus. Sie begegnet dabei Menschen und fragt: ‚Können Sie mir sagen, wo das Parkhaus ist?‘ Als Antwort hört sie dann Sätze wie: ‚Unsinn, Parkhäuser gibt es nicht!‘ Oder: ‚Jetzt gehen wir auf die Toilette …‘ Oder: ‚Mögen Sie keinen Rahmspinat?‘" Kein Wunder also, dass Oma verständnislos und manchmal unwirsch reagiert. Das würde jeder von uns – in einer fremden Stadt auf der Suche nach dem Parkhaus.

Und heute habe ich ihre Seele gesehen. Irgendwo hinter der verwirrten Fassade guckte mich jemand an, mit den Augen einer Gefangenen: eingesperrt, hilflos, hoffnungslos. „Mein Gott, wie man wird!“, seufzte sie, als ich sie inmitten ihrer Wanderung erschöpft und nicht mehr weiterkommend aufsammelte. Nein, es ist nicht so, dass Oma von nichts mehr was weiß. Es wohnt ein von allen zerstörten Gehirnzellen unberührtes Sein in ihr, das ihre erbärmliche Lage erkennt und darüber tief verzweifelt ist.

Als ich ihr heute das Mittagessen hinstellte, hat sie mich nach vielen Wochen dumpfen Dahinlebens wieder mal erkannt. Und mich dann gefragt: „Katrinna, sag mir, ist jetzt Tag oder Nacht?“ Es ist ein trüber Tag, es wird gerade dunkel draußen, aber in ihrer Welt ist die Zeit ein Mysterium. Sie weiß nicht mehr, ob sie gerade aufgestanden ist oder ob die Nacht kommt. Aber sie weiß, dass dieses Nichtwissen nicht normal ist. Sie sagt: „Ganz dumm werde ich“, und schüttelt ihren Kopf, als müsse sie eine Wolke vertreiben, die ihr die Sicht trübt. Und hat es kurz darauf vergessen. Aber Oma lebt nicht in einem fantastischen Neuland, das es immer wieder zu entdecken gilt. Sie stolpert blind und hilflos durch eine beängstigende Fremde. Dabei wollte Oma nie aus ihrem Heimatdorf weg. „Anderswo lebt man auch an einem bestimmten Ort“, sagte sie immer.

 

Noch vor einem Jahr war unsere größte Sorge, dass Oma ständig versucht, Feuer im Ofen zu machen, und dies auch in der Holzkiste oder unter der Spüle tat. Auf ihren Wanderungen verirrte sie sich manchmal im Dorf oder mein Bruder fand sie im eiskalten Garten sitzend, wo sie offenbar die Kraft verlassen hatte, ins Haus zurückzugehen. Seit wenigen Monaten ist sie aber so schwach, dass sie sich nicht mehr außerhalb ihrer Wohnung bewegt. Zwischendurch ist sie für Überraschungen gut, die mich schlicht amüsieren. Mal vergisst sie, wie man mit Messer und Gabel isst, sieht ihr Besteck an, als ob es ganz fremdartige Dinge seien, versteht das Konzept aber am nächsten Tag wieder. Mal ist sie total verängstigt, wenn ich bei ihr Staub sauge, dann finde ich sie konzentriert eine Zeitschrift lesend vor. Mal singt sie den ganzen Tag Kinder- oder Kirchenlieder, manchmal weint sie den ganzen Tag.

Aber Oma ist nur ein Teil unseres Problems.

 

Samstag, der 12. Januar 2008

Das ganze Haus stinkt nach Urin. Uringetränkte Wäsche wartet im Hausflur auf meine Ankunft. Waschen ist meine Aufgabe. Die ganze Woche über hat Papa meinen Bruder auf Trab gehalten. Einmal sogar mit einem Notruf um vier Uhr morgens. Ihm sei kalt. Nein, die Verbindungstüre dürfe nicht geschlossen werden. Auch die Küche müsse beheizt werden. Nein, mit Holz. Der Ölofen allein mache nicht warm genug. Nein, ein Elektroheizer ließe die Sicherungen durchbrennen. An drei aufeinanderfolgenden Nächten pinkelte Papa ins Bett. Auch unsere Pfleger haben keine Erklärung dafür, wie das Urinalkondom nachts abgehen kann. Papa kann es nicht selbst abmachen, denn dazu kann er sich nicht mehr ausreichend bewegen. Er beschuldigt die Pfleger, es schlampig anzubringen: „Weil die immer so schnell-schnell sind“, sagt er. Mein Bruder kann ihm nichts recht machen. „Dann ruf ich halt die Katrinna an, wenn du keine rechte Zeit hast“, sagte Papa auf den Hinweis meines Bruders, dass es vier Uhr morgens sei. Natürlich wissen wir genau, was er uns damit sagen will: Ich bin alt und krank und ihr kümmert euch nicht ausreichend um mich!

Der Wäscheberg heute ist wirklich enorm. Vier Bettwäsche-Sets, 18 Handtücher und Waschlappen, eine Daunendecke, Unterhosen und Pullover schaffe ich bis abends. Zwei Wolldecken packe ich, in Plastik verschnürt, ins Auto. Mein Mann soll sie nächste Woche in die Wäscherei bringen. Begrüßt hat mich Papa heute, als wäre ein Engel aus dem Himmel zu ihm gekommen: „Endlich bist du wieder da, jetzt ist alles gut.“ – „Wie schön, dass du da bist“, sagt er immer wieder. Auf die Frage, wie seine Woche war, sagt er, alles wäre in Ordnung gewesen. Ich muss mich den ganzen Tag zusammenreißen, um ihm meinen Hass nicht zu zeigen. Ich muss an Opa denken. Papas Vater, der unter Inkontinenz und beginnender Demenz so sehr litt, dass er sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Papa war doch damals schon Frührentner und jeden Tag zu Hause. Hat er sich genug um seinen Vater gekümmert? Wahrscheinlich bin ich ungerecht.

 

Unser Vater war 27, als er geheiratet hat. Er baute ein Haus in einem kleinen Dorf, in das er nach dem Krieg als Flüchtling aus dem Osten kam. Er arbeitete als Schreiner in einer Fabrik. Er kaufte ein Auto. Vier Kinder wurden geboren, pro Jahr eins. Ich habe sehr kitschige Erinnerungen an meine frühe Kindheit in den 1960er-Jahren. Ich erinnere mich an meine Mutter in einem weißen Kleid mit tellergroßen roten Blüten darauf. Und einen dunkelblauen Rock, der so weit war, dass man sich darunter verstecken konnte. Darauf waren große bunte Tonkrüge.

Ich erinnere mich, dass meine Mutter mir gezeigt hat, wie man aus Margeriten Kränze fürs Haar flicht. Margeriten gab es überall. Auf jeder Wiese, an jedem Hauseck, in jedem Straßengraben. Im Sommer hatte ich täglich einen solchen Kranz im Haar. Und ich erinnere mich an unsere Küche, in der es immer nach Milch roch, an Butterbrote mit Salz, wie die Sonne hereinschien, während laute Musik aus dem Radio klingt. Das Wunschkonzert. Gus Backus fällt mir ein. „Wir wollen niemals auseinandergehen.“ – „Es geht eine Träne auf Reisen.“ – „Aber dich gibt’s nur einmal für mich.“ Wir haben viel miteinander gesungen. Draußen im Garten, draußen in der Sonne. Ich sehe mich dabei auf dem Gepäckträger des Fahrrads meines Vaters sitzen. Halte mein Gesicht in den Fahrtwind und konzentriere mich auf Papas Auftrag, meine Beine von den Speichen des Hinterrads entfernt zu halten. Mein Vater fährt mit mir zum Weiher. Warmer, von der Sonne erwärmter Schlamm zwischen den Zehen. Papa schneidet Haselnussruten und macht daraus Pfeil und Bogen.

Kurz nach Papas 38. Geburtstag wurde die Krankheit diagnostiziert. Damals wurde sein Lebensplan über den Haufen geworfen. Wenn er heute von den schönen Zeiten, von früher, spricht, dann spricht er immer nur von den Erlebnissen in diesen elf Jahren. Mickrige elf Jahre. Die folgenden wurden von der Krankheit dominiert. Zysten wuchsen in seinem Rückenmark, die ihn zunehmend lähmten. Als wir Kinder waren, zog er das Bein etwas nach, Jahre später brauchte er Krücken, dann einen Gehwagen. Unsere Mutter ging in der nahe gelegenen Fabrik arbeiten, Klamotten kamen von der Caritas, aber wir konnten alle aufs Gymnasium oder auf die Realschule gehen. „Willy Brandt sei Dank“, sagte meine Mutter immer. Zuerst mochten unsere Eltern das Urteil „unheilbar“ nicht akzeptieren. Wanderten von Arzt zu Arzt, aber keiner konnte helfen. Die letzte Demütigung war dann für Papa die Einsicht, dass er für eine sinnlose Hoffnung seine ganzen Ersparnisse einem Wunderheiler hinterhergeworfen hatte. Nachdem er also erkannt hatte, dass er die Krankheit nicht besiegen konnte, hat mein Vater beschlossen, sich mit ihr zu verbünden. Er nutzte sie, um kostenlos zu parken, billiger ins Schwimmbad zu gehen, von der GEZ befreit zu werden und BAföG für seine Kinder zu erstreiten. Einmal hat er sie sogar ein wenig schändlich ausgenutzt. Ich bekam keinen Wohnheimplatz, als ich studieren wollte. Wartezeiten, zu viele Studenten in der Stadt. Da war aber auch noch das Mädchenwohnheim. Meine kleine Schwester wohnte dort schon seit einem Jahr, um in der Großstadt auf die Kunstschule zu gehen. Die nahmen aber nur Schülerinnen auf, keine Studenten. „Lass mich da mal hinfahren“, sagte Papa, wohl wissend, was seine verkrüppelte Gestalt und sein spastischer Gang in den Herzen der leitenden Klosterschwestern auslösen würde. Und so war es auch. Ich bekam eine Ausnahmegenehmigung, konnte mein Studium beginnen und hatte einen Platz zum Schlafen in der Stadt. Und eine strenge Hausordnung, über die ich mich als „großes Mädchen“ listenreich hinwegsetzen konnte.

 

Papa ist nun seit zwei Jahren bettlägerig. Nur mein Bruder und seine Frau leben noch im Dorf meines Vaters, aber auch sie, wie meine Schwester und ich, haben ganztägige Jobs. Wir haben einen ambulanten Pflegedienst, der dreimal am Tag kommt und Papa und Oma versorgt. Aufstehen und anziehen, Frühstück und Körperpflege. Dann Mittagessen, auf den Toilettenstuhl setzen, umziehen, umlagern. Abends wieder essen, umziehen, zu Bett bringen, Urinale leeren. Beide leben im selben Haus in getrennten Wohnungen. Jeweils Küche und Wohnzimmer, im Obergeschoss Schlafzimmer, Bad und die ehemaligen Kinderzimmer. Das Haus meiner Kindheit.

Als es losging vor zwei Jahren, als Papa plötzlich Hilfe brauchte und Oma sich im Dorf verirrte, waren wir alle monatelang getrieben von Hilflosigkeit und Aktionismus, hin- und hergerissen zwischen Sorge und Unglaube, zwischen Wut und Verzweiflung. Niemand bereitet einen auf so etwas vor. Mein Bruder schlug sich mit Pflegekassen und Sanitärhäusern herum, ich verschlang Ratgeberbücher und kämpfte mit dem Medizinischen Dienst. Meine Schwester schickte Care-Pakete mit Strumpfhosen, Socken und Wolldecken. Wir lernten, dass Oma Schuppenflechte hat, dass ihr viel Joghurt bei der Verdauung hilft, dass Papa Unterhosengröße 6 hat und dass er am meisten trinkt, wenn er Spezi bekommt. Damit die Pflege reibungslos ablief, besorgten wir Mikrowelle und Schnabelbecher, Rollatoren, Toilettenstühle, Urinflaschen und Inkontinenzunterlagen, Bettwäsche, Handtücher und Waschlappen. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns mit der neuen Situation arrangiert hatten, aber schließlich fanden wir zu einer brüchigen Art von Routine. Wir haben seit unserer Kindheit nicht mehr so viel miteinander gesprochen, vereinbart und gemeinsam gemacht.

Die Frau meines Bruders hat den frühesten Feierabend, sieht jeden Nachmittag nach den beiden und kümmert sich um den täglichen Einkauf. Mein Bruder schaut jede Nacht vor dem Zubettgehen noch mal nach dem Rechten. Unsere Schwester, die über 600 Kilometer entfernt wohnt, verbringt wochenweise ihren Jahresurlaub im Elternhaus. Ich fahre jeden Samstag ins Heimatdorf, um vorgekochtes Essen zu bringen, Wäsche zu machen und Gesellschaft zu leisten. Und ich schreibe Tagebuch.

 

Samstag, der 19. Januar 2008

Ich habe heute keinen guten Tag bei Papa. Gott sei Dank hat er vergangene Woche nicht ins Bett gemacht, der Wäscheberg ist überschaubar, die Notizen im Pflegebericht normal, abgesehen von einmal „kotverschmiert“. Er ist etwas schwach heute, hatte geschwitzt in der Nacht und ein Fieberbläschen am Mund. Er ist aber gut aufgelegt, isst mit Appetit und schläft am Nachmittag. Mein Mann Will ist mitgekommen und bereitet vor Ort die Essensrationen für die Woche vor, das freut Papa immer. Und Will stellt das Vogelhäuschen vor dem Fenster an Papas Bett wieder auf, das der Sturm letzte Nacht umgeworfen hatte.

Ich kann Papa heute einfach nicht so gut ertragen und hoffe, er merkt es nicht. Er erzählt von der neuen Pflegerin Daniela, die er sehr gerne mag, von ihrer Scheidung und ihren Kindern und dass ihre Mutter ihr hilft, wie viel sie Miete zahlt und wie teuer die Schulranzen für ihre Kinder sind. Ich weiß nicht so genau, was ich ihm verüble. Dass er für die Situation der Pflegerin mehr Verständnis zu haben scheint als für die Situation seiner Kinder? Dass er bettlägerig ist und mich veranlasst, jedes Wochenende meine Freizeit zu opfern? Ich mag mich gerade selbst nicht besonders.

 

Samstag, der 26. Januar 2008

Ein ganz normaler Samstag bei Papa. Er kränkelte etwas vergangene Woche, erzählt mir heute fast wortwörtlich dasselbe wie letzten Samstag. Beim Gedanken, dass er gar nichts erlebt hat, tut er mir immens leid. Ich habe auch nicht wirklich viel zu erzählen, habe eine ganz normale Arbeitswoche hinter mir, ohne besondere Vorkommnisse. Papas neuer Fernseher vor dem Bett funktioniert nicht. Zumindest nicht so, dass er ihn vom Bett aus mit seiner eingeschränkt beweglichen Hand bedienen kann. Er kann die Knöpfe noch drücken, wenn man ihm die Fernbedienung in die Hand legt, aber er kann den Arm damit nicht mehr hochheben. Hoffentlich kann mein Bruder das richten.

 

Samstag, der 2. Februar 2008

Heute geht es uns beiden gut. Papa ist gut drauf und auch ich habe mich wieder besser im Griff und sitze den ganzen Nachmittag bei ihm am Pflegebett und erzähle kleine Anekdoten aus meiner Arbeit und von Erlebnissen, die Will bei seinen Konzerten hat. Mir hat geholfen, dass ich mich gestern bei meiner besten Freundin ausgeheult habe. Heute kann ich Papa seine Bedürftigkeit wieder verzeihen. Auch dass ich ihn am nächsten Samstag nicht besuchen kann, weil ich beruflich nach Wien muss, nimmt er gut auf. Ich bin erleichtert, der Termin ist wichtig. Der Fernseher funktioniert!

 

Samstag, der 9. Februar 2008

Ich schicke Papa eine Postkarte aus Wien, die hilft ihm vielleicht über die Zeit.

 

Samstag, der 16. Februar 2008

Papa hatte eine sehr schlimme Woche. Am Dienstag hatte der Pflegedienst bei unserer Schwester in Norddeutschland Alarm geschlagen, dass es Papa so schlecht gehe: Hohes Fieber, der Blutdruck lässt sich nicht stabilisieren, er isst nicht und ist extrem schwach. Er will nicht ins Krankenhaus. Die Hausärztin wurde alarmiert, sie kam am selben Tag noch vorbei. Die Frau meines Bruders konnte sich sofort freinehmen und zu ihm fahren. Zwischendurch rief mich die Hausärztin im Büro an und fragte mich, ob wir uns über eine wichtige Frage schon Gedanken gemacht hätten: Rettung um jeden Preis, was bedeutet, Papa auch gegen seinen Willen ins Krankenhaus zu bringen, oder akzeptieren, dass er auch an einer kleinen Infektion sterben könnte. „Bloß kein Pflegeheim!“, sagt Papa schon seit den Anfängen seiner Hilfsbedürftigkeit. Der Ärztin sage ich, dass es Papas Wille ist, unter allen Umständen zu Hause zu bleiben und dass wir das akzeptieren möchten. Dass er nur so schmerz- und beschwerdefrei wie möglich sein soll.

Während des Rests der Woche liefen deswegen die Telefone unter uns Geschwistern heiß. Im Grunde sind wir uns alle einig, dass wir Papas Willen respektieren wollen, aber was ist, wenn er bewusstlos ist und vor Schmerzen schreit?

Heute ist er stabil, er bekommt Antibiotika, aber er ist sehr schwach. Er hat von den vorbereiteten Essen für die Woche nichts gegessen. Zu Mittag bringt er gerade mal ein paar Bissen Bratwurst runter. Immerhin am Nachmittag dann eine Banane und später einen Joghurt. Er will, dass ich ihm die Waden massiere, und hält es dann vor Schmerzen nicht aus. Er ist sehr deprimiert über seine Situation und als dann selbst das Schnäuzen wehtut, bringt ihn das fast zum Verzweifeln.

Ich sitze den ganzen Nachmittag bei ihm, erzähle ihm von der Frage der Ärztin, will über seine Situation sprechen, aber er will nicht reden. Ich hoffe so sehr, dass ich genüge, aber ich bin unsicher, überfordert und voller Angst.

 

Samstag, der 23. Februar 2008

Papa geht es immer noch nicht gut, er ist schwach, aber sehr tapfer. Er fragt mich, wann es endlich vorbei ist, und sagt, und dass er neulich schon mal glaubte, sterben zu können, aber dann hätte er doch wieder geatmet. Mitleid überflutet mich.

 

Heute frage ich mich manchmal, ob der plötzliche Tod unseres älteren Bruders vor über zwei Jahren der Auslöser war oder ob dieses tragische Ereignis nur unseren Blick auf eine schon im Gange befindliche Entwicklung gelenkt hat.

Der Tag, der alles verändert hat, war der 8. September 2005. Will und ich bereiteten gerade unseren Urlaub vor, den wir immer um diese Zeit machen, um unser erstes Date vor nunmehr 17 Jahren zu feiern. Ein Anruf meines „kleinen“ Bruders: Unser großer Bruder sei im Krankenhaus. Das Herz. Noch ein Anruf. Ein Infarkt. Er werde operiert. Und dann: künstliches Koma. Ich sage den Urlaub ab und fahre nach Hause.

Wir sind alle da. Wir fahren die Frau meines Bruders ins Krankenhaus. Jeden Tag sieht sie älter aus, ihre Teenager-Tochter erstarrt jeden Tag mehr. Wir sprechen kaum, sitzen nur am Krankenbett. Es ist, als ob Worte nicht genügten. Oder als ob sie etwas wahr machten, was nicht sein darf. Hirntot. Herz-Lungen-Maschine. Papa fragt nicht. Er will nichts hören, nur heimlich hoffen, ganz still sein, damit nichts kaputtgeht. Dann kommt die Lungenentzündung. Als meine Schwester, in der Nacht gerufen, mit Frau und Tochter ans Sterbebett fährt, erreichen sie meinen Bruder nicht mehr rechtzeitig. „Er wollte nicht, dass ich ihm zusehen muss“, sagt seine Frau. Ich weiß, dass sie das Kostbarste war, das er hatte. Wir sagen es Papa noch in der Nacht. In den frühen Morgenstunden kaufen wir Eis zum Frühstück. Wir müssen unsere wunden Seelen kühlen.

Wenn ich heute an diesen Tag denke, kommt mir die Zeit davor ganz unwirklich vor. So unproblematisch. Der Tod unserer Mutter lag lange zurück. Papa selbst, meine zwei Brüder, meine Schwester und ich lebten unser eigenes Leben unabhängig voneinander, wir besuchten uns zu familiären Anlässen und verbrachten Weihnachten immer zusammen in unserem Elternhaus, in dem nur Papa und Oma übrig geblieben waren.

Danach war alles anders. Innerhalb weniger Monate kam die Pflegebedürftigkeit unseres Vaters und unserer Oma über uns. Wenige Wochen nach dem Tod meines Bruders konnte oder wollte unser Vater nicht mehr allein aufstehen, sich nicht mehr anziehen und sich nicht mehr versorgen. Also haben wir einen ambulanten Pflegedienst organisiert, der ihm beim Gehen behilflich war und ihm beim Waschen und beim Essen half. Vaters Krankheit verläuft in Schüben und so dauerte es nur wenige Wochen, bis er auch nicht mehr alleine stehen konnte. Eine Zeit lang konnte er die Arme noch bewegen und wenn man ihn hochhob, konnte er mit den Beinen noch etwas mitstützen. Das geht jetzt auch nicht mehr. Auch sitzen kann er inzwischen nicht mehr alleine. Er ist 76 Jahre alt und bettlägerig. Er kann seinen Kopf noch bewegen und mit den Fingern der linken Hand greifen, wenn man ihm etwas in die Hand legt. Sein Verstand funktioniert noch klar.

Ein halbes Jahr nach dem Tod meines Bruders verschlechterte sich der Zustand von Papa so sehr, dass wir ihn mit Unterstützung des Pflegedienstes ins Krankenhaus brachten. Er war extrem schwach, Arme und Beine versagten komplett und er musste gefüttert werden. Der Krankenhausaufenthalt war ein zehntägiges Fiasko. Papa flehte uns während unserer täglichen Besuche immer wieder an: „Ich will nach Hause, bringt mich heim, bitte lasst mich nach Hause!“ Die Ärzte dort wussten mit Papa nichts anzufangen. Schon am zweiten Tag ließ ihn ein Pfleger, der ihm gerade das Mittagessen eingab, kurz am Bettrand sitzen, wohl weil er zu etwas gerufen wurde. Papa konnte sich ohne Stütze aber nicht halten, rutschte vom Bett, fiel zu Boden und zog sich eine große Beule an der Stirn und Schmerzen in der Hüfte zu. Der junge Stationsarzt mochte sich mit der 30 Jahre alten Diagnose und den alten Befunden von damals nicht zufriedengeben und unterzog Papa diversen Untersuchungen. Eine Krankenfahrt zu einem niedergelassenen Neurologen endete auf dem Gehsteig vor dessen Haus, da erst vor Ort bemerkt wurde, dass kein liegender Patient in die Praxis transportiert werden konnte. Papa ließ zunächst alles unter leisem Protest geschehen, aber als der Stationsarzt schließlich vorschlug, ihm für eine Rückenmarksuntersuchung Kontrastmittel zu injizieren, verweigerte Papa seine Einwilligung. Obwohl ich nach Tagen endlich zu dem Arzt durchdrang, dass es nicht um Heilung, sondern nur um Linderung und eine Stabilisierung seines Allgemeinzustandes gehen solle, verweigerte Papa schließlich auch eine Eigenbluttransfusion und die Neueinstellung seiner Medikation. Da haben wir aufgegeben. Papa kam nach Hause, wo wir zwischenzeitlich ein professionelles Pflegebett im Wohnzimmer aufgestellt hatten, was die Pflege zu Hause erleichterte.

So hat alles begonnen. Mein Vater hat sich nach dem Tod seines Sohnes zwar zum Sterben niedergelegt, doch der Tod lässt auf sich warten.