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Katharina Lukas

Autorin

Sacklzement

Sacklzement

Die Münchner Reporterin Gundi Starck trägt in ihrem niederbayerischen Heimatdorf Hintersbrunn gerade ihren Vater zu Grabe, als Dorfdepp Franz mit der Nachricht vom „Selbstmord“ eines Hundes in den Leichenschmaus platzt. Bald ist klar, worüber niemand im Ort spricht: Der Bauunternehmer Django Schickaneder hat das Haustier eines zugereisten Bildhauers im Wald erhängt. Er will das Mahnmal verhindern, das an eine Gräueltat des Zweiten Weltkriegs erinnert. In ihrem Job frustriert, träumt Gundi vom Aussteigen. Ihr Elternhaus will sie verkaufen. Da erfährt sie, dass ihr Vater ein lang gehütetes Dorfgeheimnis lüften wollte: Der in Ehren gehaltene Altbürgermeister Schickaneder, Djangos Großvater, hat anscheinend besagte Gräueltat begangen. Gundi plagen Erinnerungen an ihre unglückliche Kindheit, in der sie, wie Franz, eine Außenseiterin war. Doch sie wittert eine Story und beschließt zu bleiben. Sie findet heraus: Django, Gundis heimlicher Jugendschwarm, hat mehr zu verbergen als die Tat seines Großvaters.

Katharina Lukas hat in „Sacklzement!“ das liebevoll-kritische Bild eines Dorfes, irgendwo im idyllischen Nirgendwo gezeichnet, das zugleich Bilderbuchort und Mikrokosmos des Bösen ist. Stimmige Charaktere, geschmalzene Wortwahl und eine bedrückende Geschichte nehmen die LeserInnen mit, am Ende überrascht ein Twist.
Katharina Eigner, Krimitipp Mörderische Schwestern (Februar 2022)

Es geht um viel Geld, die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und um Schuld. Großes Rambazamba und viele Mauscheleien. Ein spannendes Buch mit feinen Menschenbeschreibungen und hübschen kleinen Psycholehrstückchen.
Ulla Müller, Bayern 1 (Januar 2022)

In Katharina Lukas’ Roman „Sacklzement!“ wühlt die Hauptdarstellerin ganz tief in der Vergangenheit. Und trifft nicht nur auf begrabene Hunde in Hintersbrunn. Wer schon mal auf dem Dorf gelebt hat, wird sich mit vielem identifizieren können. Lukas, ehemalige Chefredakteurin einer Fernsehzeitung, spricht aus Erfahrung: Sie wurde in der damals kleinsten Gemeinde Niederbayerns geboren.
Münchner Merkur (Oktober 2021)

BILD:

https://www.bild.de/regional/muenchen/muenchen-aktuell/bayern-krimi-von-katharina-lukas-bei-ihr-ermittelt-bild-79041046.bild.html

INMünchen

https://www.in-muenchen.de/literatur/interview-mit-krimiautorin-katharina-lukas-mich-faszinieren-menschliche-abgruende-91046713.html

da Hogn

https://www.hogn.de/2022/06/01/2-kultur-im-bayerischen-wald/3-grenznlos/sacklzement-von-dorftyrannen-und-hobby-ermittlern/158608

Mörderische Schwestern

https://www.moerderische-schwestern.eu/wer-wir-sind/im-visier/default-efeb6dc29b/

 

Kapitel 1

91 Jahre ist der Saukerl geworden. Wahrscheinlich hat ihn die Bosheit so lange nicht sterben lassen. Jetzt liegt der alte Bäckermeister doch noch im Sarg. Aufgebahrt im weiß getünchten Leichenhaus neben der Pfarrkirche von Hintersbrunn. Und wenn er nicht gerade vor einem höheren Richter steht, bleiben seine Schandtaten für immer ungesühnt.

 

Seit fast 30 Jahren ist Gundi nicht mehr in dem Dorf gewesen, in dem sie aufgewachsen ist. Sie hat versucht, es zu vergessen wie einen bösen Traum. Ungerührt schaut sie sich die Leiche an. Sie hatte ihn anders in Erinnerung, ihren Vater. Irgendwie größer. Mächtiger. Der alte Bäcker war kein guter Vater. »Eine Schixn« hat er in ihr gesehen, solange sie sich zurückerinnern kann. Später ein »Luder«. Und zum Schluss eine »Matz«. Es war die letzte Beschimpfung, die sie von ihrem Erzeuger gehört hat. Er hat sie ihr nachgerufen, als sie die Tür ihres Elternhauses endgültig hinter sich zuschmiss, kaum dass sie volljährig geworden war, und ihren verwitweten und verbitterten Vater allein zurückließ.

Und jetzt muss sie sich als einzige Hinterbliebene um seine Beerdigung kümmern. Und um die alte Bäckerei, das Haus ihrer unglückseligen Kindheit. Die abgewrackte Hütte will Gundi so schnell wie möglich zu Geld machen.

 Er war mal wer, der alte Bäcker. Erwin Starck, geboren 1927, selbst Sohn eines Bäckers, trat in jeder Hinsicht in die Fußstapfen seines Vaters. Er übernahm dessen Bäckerei und dessen Arschlochheit. Gundis Elternhaus, vom Großvater erbaut, steht mitten auf dem Dorfplatz. Oben die Schlafzimmer, unten Küche, Wohnzimmer und Backstube. Vorn der Verkauf, für den ihre Mama zuständig war und immer auch die Gundi, die mithelfen musste und die ein Teufelsdonnerwetter erlebte, wenn sie nicht zur Stelle war, sobald Hilfe gebraucht wurde. Die einzige Tochter wurde nach dem frühen Tod der Mutter vom Vater als deren natürliche Nachfolgerin gesehen. Eine, die vor dem Familienoberhaupt aufsteht und Kaffee kocht, seine Wäsche aufsammelt, seine Kleidung rauslegt, seine Backwaren verkauft, die Stube putzt, Essen kocht, aufdeckt, abräumt, das Geschirr spült, einkauft, ein Bier bringt und aus dem Weg geht. Jeder Tag im Leben der Bäckersfamilie drehte sich um ihn, den Bäckermeister, und seine Bedürfnisse. Aber Gundi war nicht wie ihre Mutter, die ihr Schicksal als Dienstmagd ihres Ehemannes klaglos erduldet hatte, bis sie ein früher Tod davon erlöste. Gundi fügte sich nicht. »Schmier dir dein Brot selber!«, sagte sie und kassierte eine Ohrfeige. »Ich bin nicht deine kostenlose Arbeitskraft!«, schrie sie, worauf er zum ersten Mal mit den Fäusten auf sie losging.

Verglichen mit der Gnadenlosigkeit ihrer Kämpfe verlief Gundis Auszug von zu Hause erstaunlich unspektakulär. Am Abend davor hatte sie den großen Koffer ihres Großvaters vom Dachboden geholt und ein paar Bücher eingepackt, dazu ein paar wichtige Papiere und ein wenig Kleidung. Sie hatte vor Aufregung kaum geschlafen, als sie am Morgen ihres 18. Geburtstages, den Koffer in der Hand, in der Tür stand. Ihr Vater saß am Küchentisch und las in der Zeitung.

»Ich geh jetzt«, sagte sie.

Er sah nicht auf. »Dann hau doch ab.« »Für immer. Du siehst mich nie wieder.«

Ein kurzer Blick, er bemerkte den Koffer. »Wirst schon sehen, wie weit du kommst.«

»Überall ist es besser als bei dir.«

»Auf was wartest du denn? Hau ab! Hau endlich ab!«

»Du Arschloch«, sagte Gundi und warf die Tür hinter sich zu. Er behielt das letzte Wort.

»Du Matz! Du dreckige Mistmatz!«, hörte sie ihn rufen, als sie ins Freie trat. Und als der Überlandbus mit ihr und ihren wenigen Habseligkeiten das Ortsschild passierte, hatte sie das Gefühl, sich irgendwie in Sicherheit zu bringen.

 »Ähm-hm-hm.« Hinter Gundi macht sich der Kirchendiener bemerkbar. Ein kleiner dürrer Mann in Schwarz, der es sich angewöhnt hat, wie ein geprügelter Hund zu gucken, und der mindestens so alt ist wie der Mann in der Kiste vor ihnen. Er hat ihr das Leichenhaus aufgesperrt und den Sarg geöffnet an diesem Sommernachmittag, an dem sie nach vielen Jahren gekommen ist, um ihren Vater noch einmal zu sehen. Neben der groß gewachsenen und stämmigen Gundi ist der Mesner ein Zwerg. Halb so kräftig wie sie, die sein Gewicht vermutlich zweimal auf die Waage bringt. Deswegen packt sie den Deckel eigenhändig zurück auf den Sarg des Vaters und schraubt die Gewinde fest zu.

 Die Nachricht erreichte sie mitten in der Redaktionskonferenz. Es war Ende August und die Berichterstattung für das kommende Oktoberfest wurde gerade besprochen. Man plante ein gesondertes Journal. Gundi rechnete damit, dass sie einen festen Auftrag für eines der Promizelte bekam. Interviews am frühen Abend mit der aufgetakelten und aufgekratzten Lokalprominenz und die eine oder andere süffisante Klatschmeldung zu fort-geschrittener Stunde. Sie wollte gerade ihre Recherchen präsentieren, welche Bayern-Spieler zu welchen Wiesn­veranstaltungen eingeladen waren, als die Redaktionssekretärin Christa an die Tür des großen Konferenzraums klopfte und ohne abzuwarten sofort eintrat. Mit einem Finger winkte sie Gundi zu sich, die zuerst den Kopf schüttelte, dann aber dem zwingenden Blick von Christa nicht standhielt, sich das Nicken des Chefredak-teurs abholte und den Konferenzraum verließ.

 »Was ist denn los?«, fragte sie draußen.

 »Es ist jemand am Telefon für dich«, antwortete Christa. »Und kann das nicht warten?« Gundi starrte auf die geschlossene Tür, hinter der in diesem Augenblick Entscheidungen ohne sie gefällt wurden. Es war eine der wichtigsten Konferenzen des Jahres beim Tagblatt. Die Berichterstattung vom Oktoberfest – besonders wenn sie deftige »Knutsch- und Busenbilder« mitlieferte – war ein Auflagenbringer. Hochsaison für eine Boulevardzeitung in München. Wahrscheinlich bekam jetzt der ewige Schleimer Karsten das beste Zelt. Womöglich sogar die tägliche Wiesnkolumne, auf die Gundi scharf war und die sie tausendmal besser schreiben konnte. Weil sie einen viel besseren Draht zur lokalen Prominenz hatte als dieser eitle Gockel, dem es immer nur darum ging, sich selbst darzustellen. Verdammte Scheiße aber auch, was konnte nur so wichtig sein?

»Es ist jemand aus deinem Dorf«, sagte Christa, dabei senkte sie Kopf und Stimme. »Ich glaube, es ist was passiert.«

Hintersbrunn ist ein Dorf im Nirgendwo zwischen München, Regensburg und Passau. Es ist kein Ort, den man ansteuert oder den man entdeckt, wenn man irgendwo hinfährt, weil er weder an einer großen Straße noch in einem touristisch interessanten Gebiet liegt. Nach Hintersbrunn kommen nur Menschen, die genau dort hin-wollen. Aber nur sehr wenige haben dazu Anlass. Gundis Heimatort ist so überschaubar, dass man in den nur unwesentlich größeren Nachbargemeinden sagt, in Hintersbrunn könne man von Ortsschild zu Ortsschild spucken. Rund um die Kirche nebst Pfarrhaus, Gemeindehaus und dem leer stehenden alten Schulgebäude gruppieren sich ein paar weiß gestrichene Einfamilienhäuser mit gepflasterten Einfahrten und gestutzten Thujahecken. Mittendrin steht das alte Wirtshaus, der Greimerbräu, mit einem alten Baum davor. Etwas weiter unten an der Straße steht Gundis schäbig wirkendes Geburtshaus, die ehemalige Bäckerei. Gleich daneben die stillgelegte Post, von der ebenfalls der Putz bröckelt und in der es keine Briefe und Päckchen mehr gibt, sondern nur noch die alte, verwitwete Nandl. Schräg gegenüber steht ein kleiner Gemischtwarenladen, wie er selten geworden ist in den Dörfern. Drum herum ein paar versprengte Gehöfte, jede Menge Mais- und Rapsfelder, ein paar Wiesen und Wälder. Das Dorf liegt in einer kleinen Senke und die Hauptstraße kommt auf der einen Seite aus dem nahe gelegenen Marktflecken, in dem es einen Supermarkt, eine Bank, zwei Ärzte, eine Apotheke und einen Friseur gibt. Auf der anderen Seite führt sie über ein kleines Gewerbegebiet mit ein paar Nutzgebäuden und einem Lagerhaus zur Bundesstraße, auf der man in 40 Minuten zum Flughafen und in 60 Minuten nach München kommt. Wer hier wohnt, ist hier verwurzelt. Man zieht nicht nach Hintersbrunn, man zieht weg. Der einzige Zuwachs in den letzten Jahren waren sechs Flüchtlingsfamilien, die eine Zeit lang im alten Pfarrhof und im Schulhaus unter großer Erstbegeisterung der einheimischen Bevölkerung untergebracht wurden. Auch die sind inzwischen weggezogen. Zur Schule fährt ein Bus, zur Arbeit fährt man mit dem Auto. Zwischen Geburt, Hochzeit und Tod ist nicht viel los.

 Wie eine Geisterstadt wirkt das Dorf auf Gundi, als sie auf dem Hügel kurz anhält und zum ersten Mal nach einer halben Ewigkeit ihre Heimat wiedersieht. Kein Mensch ist zu sehen, kein Laut ist zu hören. Gundi wäre nicht überrascht, wenn diese Strohballen, die sie aus den Western ihrer Kindheit kennt, über die Zufahrtsstraße rollen würden.

 »Wärst nicht die Erste, die wo’s wieder heimzieht«, sagt die Nachbarin Nandl gegen alle Realitäten und mit unverhohlenem Lokalpatriotismus, als sie Gundi das alte Bäckerhaus aufsperrt. Sie hat sich in den letzten Jahren um den alten Bäcker gekümmert, und sie war es, die in der Redaktion angerufen hat. Gundi kennt sie seit ihrer Kindheit. Gundi kennt überhaupt fast jeden im Dorf. Knapp 100 Einwohner, Kinder mitgezählt. Aber selbst nach vielen Jahren fühlt sich Nandls Gedanke, Gundi könne zurück in ihr Elternhaus ziehen, immer noch wie ein Lebenslänglich-Urteil an. Niemals zurück, denkt Gundi. Den Vater eingraben, das Haus loswerden und dann nichts wie weg. Länger als nötig hier zu bleiben, wäre ihr wie ein Verrat an der Flucht vorgekommen, die sie so viel Kraft gekostet hat. Und Verrat an allem, was sie sich in der Stadt so hart erkämpfen musste.

 »Kunigund, dumm und rund!« Eine verhasste Erinnerung ist wieder da. Als wäre sie nicht in ihrem Gedächtnis abgespeichert, sondern an diesem Ort verwahrt gewesen. Gundi steht in der etwas verwahrlosten Küche ihres Vaters mit dem veralteten Elektroherd und der kleinen Spüle, einem neueren, billigen Küchenbüfett und dem bekannten Tisch mit der Eckbank, über dem ein großes Kruzifix hängt. Sie füllt Wasser in die verkalkte Kaffeemaschine. Den ganzen gestrigen Abend hat sie sich im angrenzenden Wohnzimmer durch die Sachen ihres Vaters gewühlt. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was er für ein Messie gewesen war. Kontoauszüge aus gefühlt hundert Jahren. Abgelaufene Kalender, Ansichtskarten von unbekannten Leuten, unsortierte Ausrisse aus Zeitungen, mehrere Kartons mit zerfledderten Briefen, mindestens 20 Aktenordner mit unklaren Inhalten, zerschlissene Sammelalben, angefangene Haushaltsbücher, angefangene Tagebücher und – du meine Güte – sogar der Arierpass von ihrem Großvater. Kein Testament oder Unterlagen zum Haus bisher. Und kein einziges Foto von ihrer Mutter. Der alte Bäcker hat es seiner Frau übel genommen, dass sie so früh gestorben ist. Gundi war damals noch klein und sie erinnert sich nur bruchstückhaft an ihre Mutter. Nur daran, dass die Mami immer still war und der Vati groß und streng und alt. Der großspurige Bäckermeister von Hintersbrunn hat sich erst verheiratet, als er bemerkte, dass er einen Erben brauchte und außerdem jemanden, der sich um ihn kümmert, wenn er alt wird. Er regierte mit hartem Regelwerk. Essenszeit, Schlafenszeit, alles zu seiner Zeit. Vati darf nicht gestört werden. Vati hat die ganze Nacht gearbeitet. Sei still und iss. Gundi war nicht der erhoffte Erbe, sie war ein Mädchen. Ungeschickt und übergewichtig. Ihren Vornamen, der ihr seit dem ersten Schuljahr den demütigenden Singsang ihrer Klasse einbrachte, hatte sie von ihrer Großmutter, der Mutter ihres Vaters, die gesinnungsdeutsch und herrschsüchtig aus ihrem Sohn den sozialen Krüppel gemacht hatte, der er gewesen war.

Glücklicherweise hatte sich ein paar Jahre später das Schwabbelige an Gundi an die richtigen Stellen verlagert. Sexy Hexy nannten die Buben sie jetzt, sehr zum Ärgernis ihres Vaters, der sie beschimpfte und öffentlich ohrfeigte, wenn er sie erwischte, wie sie am Bushäuschen rumhing, wo sich die größeren Jungs trafen. Was sie damals fast täglich tat. Zur großen Aufregung des Christlichen Frauenvereins, weil sie erst 13 war. Sie schnallte sich den Gürtel immer ganz eng um ihre Schürze, sodass sich der Stoff über dem Busen spannte, und musste nie lange auf die Gesellschaft der Buben warten. Sie genoss, wie sie glotzten. Wie sie sich gegen-seitig zu übertrumpfen versuchten mit ihren Mofas und ihrem Wissen, was im Gegensatz zur richtig schlechten Popper-Musik eine gute Musik war. Geschmust hat sie mit fast jedem von ihnen. Und vom draufgängerischen Hans und dem geduldigen Benno hat sie sich auch anfassen lassen. Richtig verliebt war sie aber nur in einen. Django. Mit seinen blonden Haaren und seiner braunen Haut sah er aus wie eine Mischung aus Billy Idol und Indiana Jones, fand Gundi damals. Außerdem hatte er seine Mutter früh verloren. Das verbindet uns, dachte sie. Django hatte allerdings keinen Blick für Gundi. Ließ sich auch nicht eifersüchtig machen. Er war viel zu cool dafür. Er war der Chef unter den Buben. Die bewunderten ihn und machten alles, was er sagte.

 »Ich war ein trauriges Kind und ein unmöglicher Teenager«, erzählt Gundi Ferdl am Telefon nach der ersten schlaflosen  Nacht in ihrem alten Elternhaus, in der die verschollenen Erinnerungen lebendig wurden. Weil es in ihrem alten Zimmer feucht und schimmelig ist, hat sie auf der Wohnzimmercouch ihr Nachtlager aufgeschlagen. Die alten Decken hier riechen nach Vergangenheit. Am Abend vor ihrer Abfahrt nach Hintersbrunn haben sie und Ferdl davon geträumt, mit dem Erlös des Bäckerhauses gemeinsam wegzugehen. Ans andere Ende der Republik, an die Ostsee. Ein kleines Hotel würden sie davon anzahlen, es selbst renovieren. Ferdl würde es leiten, Gundi würde das Marketing machen. Nach den ersten Stunden zurück in ihrer Heimat sind alle Träume wie weggeblasen. Gundi fühlt sich wieder so fremdbestimmt und machtlos wie früher.

»Hier leben alle Geister aus meiner Kindheit noch, Ferdl. Auf einmal bin ich wieder die dicke Bäckerstochter. Und auf der Beerdigung sehe ich sie alle wieder. Alle, denen ich nie recht war. Alle, die mich ausgelacht haben. Alle, die mir die Zunge in den Hals gesteckt haben. Alle, die ich nie wiedersehen wollte.«

 Django wahrscheinlich auch.

Kapitel 2

Eines kann er besser als alle anderen. Schwammerl suchen. Oder besser gesagt finden, haha. Das findet der Fürbitten-Franz wahnsinnig witzig. »Ich geh zum Schwammerlfinden«, sagt er immer, wenn es so weit ist. Zu jedem und bei jeder Gelegenheit. Je nachdem, wem er gerade gegenübersteht, wird entweder milde gelacht oder er wird »damischer Hund« genannt.

 Es ist ein gutes Geschäft mit den Schwammerln, und der Fürbitten-Franz, der ansonsten im Lagerhaus als Depp vom Dienst arbeitet, versorgt die Kramer Liesi, die aus dem alten Dorfladen ihrer Mutter ein kleines Feinkostgeschäft gemacht hat, mit seinen Fundstücken, die er den ganzen Sommer lang auf den Wiesen und in den Wäldern in der Nähe findet. Er findet Steinpilze und Pfifferlinge, Maronen und Birkenpilze und sogar die selten gewordenen Wiesenchampignons, wobei die beiden Ersten am meisten Geld bringen. Natürlich hat Franz wie jeder gute Pilzsammler seine geheimen Plätze. Und er findet auf fast mysteriöse Weise immer wieder neue Stellen. Es zieht ihn automatisch dorthin. An manchen Tagen legt er an die 30 Kilometer zurück. Für Franz ist es, als würden die Schwammerl sich auf seinen Besuch freuen.

Heute ist er am frühen Vormittag aufgebrochen. Der warme Regen, der über Nacht durch Hintersbrunn gezogen ist, hängt wie ein Schleier über den Wipfeln des nahen Waldes und man kann den kommenden warmen Tag ahnen. Hinter ihm läuten die Glocken der Dorfkirche. Heute wird der alte Bäckermeister beerdigt, denkt Franz, als er das Scheideggerholz mit seinen stattli-chen Buchen, Fichten und Eichen betritt. Es ist plötz-lich absolut still, die Waldvögel haben sich noch nicht an Franz gewöhnt und der weiche Boden verschluckt seine Schritte. Nach einer Weile erreicht er einen Futterstand. Hier will er eine Zeit lang versteckt sitzen und hoffen, dass er ein paar Rehe zu Gesicht bekommt. Spä-ter sammelt er die ersten Schwammerl auf einer kleinen Lichtung. 

Die Sonne brennt inzwischen, und er will sich die Füße im Lernerbach kühlen und weiterwandern zu der Stelle, an der es die meisten Steinpilze gibt. Nachdem er den kleinen Bach überquert hat, wird das Holz dichter. Es ist dunkel hier, aber Franz findet den Weg ganz von allein, und seine Gedanken sind bei der Kramer Liesi. Er sammelt einen ganzen Korb voll mit Steinpilzen und freut sich auf ihr Gesicht, wenn er ihr seine Beute auf den Tresen stellt. Franz findet Liesi sehr sympathisch. Sie lässt es zu, dass Franz sein Bier bei ihr im Laden austrinkt, bevor er zu seiner Arbeit im Lagerhaus geht, wo der neue Chef diese Frühstücksgewohnheiten nicht so gut findet. Ebenso wie die Tatsache, dass er heute zum Schwammerlfinden geht, anstatt den Boden der Lager-halle zu kehren. Aber der Fürbitten-Franz hat Narrenfreiheit. Weil er, inzwischen weit über 50 Jahre alt, nicht gescheiter ist als ein Zwölfjähriger. Zumindest sagen das einige. Andere rechnen es ihm hoch an, dass er sich sein Essen und sein Bier selbst verdient und sich für keinerlei Aushilfsarbeit zu schade ist.

 Heute ist es noch zu früh gewesen für sein Bier bei Liesi. Die wird Augen machen, die Liesi, die wird schauen, denkt Franz und grinst in sich hinein, während er weiterwandert, weitere Schwammerl findet, nach Füchsen und Rehen Ausschau hält und den Vögeln zuhört. Er hat den halben Vormittag glücklich verbummelt, als ihn ein Knall in weiter Ferne aus den Gedanken reißt.

 »Hoppla, der Jäger ist unterwegs mit seiner Büchs«, erklärt sich Franz den Schuss und denkt, dass es Zeit wird heimzugehen. Da bemerkt er, dass da vorne etwas nicht stimmt. Eine komische Bewegung. Etwas Weißes im schattigen Scheideggerholz. Der Jäger kann es nicht sein, der klang viel zu weit entfernt. Da hängt etwas am Baum, erkennt Franz und wagt sich langsam heran. Ja um Gottes willen! Da hängt ein großer weißer Hund, mannshoch aufgehängt an der alten Eiche! Eine furcht-bar lange und blaue Zunge quillt ihm aus dem Maul. Um den Hals hat er einen orangeroten Strick mit einem sauber gewickelten Henkersknoten und daran hängt schlaff und tot der Rest vom Hund. Mit offenem Mund tritt Franz unter den Baum. Ist das nicht der Hund vom Sackbauer? Franz zittert am ganzen Körper vor Aufregung. Ja, das ist er. Und er hat sich erhängt, das ist auch klar. Der Strick, der Knoten, wie er da baumelt. Der Hund vom Sackbauer hat Selbstmord begangen. Unvermittelt bekommt Franz es mit der Angst zu tun. Er dreht sich um. Ist da einer? Auf einmal ist er überzeugt davon, dass er verfolgt wird. Von einer vergessenen Erinnerung oder vom leibhaftigen Teufel. Kurz schaut er sich in alle Richtungen um, und dann rennt er los, so schnell er mit seinem Bierbauch kann. Auf dem kürzesten Weg zurück nach Hintersbrunn springt er über den kleinen Forst-weg, durch das Holz, über den Bach, vorbei am Lager-haus und an der Kramer Liesi, hinein ins Wirtshaus, wo fast das ganze Dorf gerade Platz genommen hat zum Leichenschmaus nach der Beerdigung des alten Bäckermeisters. Der Fürbitten-Franz reißt die Tür zur Gaststube auf und stutzt. An den Bäcker hat er nicht mehr gedacht. Die um die Biertische versammelten Kirchgänger in ihren dunklen Anzügen und Kleidern verstummen und schauen ihn an. Und plötzlich kann nichts richtiger sein, als dass alle da sind. Dass alle Blicke auf ihn gerichtet sind. Wie ein Unheilsbote ruft Franz in die Menge: »D… der Sackbauer Struppi hat sich u… umbracht!«

 Die kleine Gaststube vom Greimerbräu ist voll besetzt. Zwei Tische mit den Nachbarn des Bäckers, darunter Liesi, Gundis Schulfreundin aus lange zurückliegenden Zeiten. Ihre gelben Wuschelhaare erkennt Gundi sofort wieder, trotz der ungewöhnlich vielen Falten, die Liesi jetzt im schmalen Gesicht hat. Einen weiteren Tisch besetzen die Ministranten und einen Tisch die Totengräber. Gundi sitzt am Kopfende der großen Tafel in der Mitte, an der auch der Pfarrer Platz genommen hat. Es ist natürlich nicht mehr der Herr Pfarrer Dörner aus ihren Jugendtagen. Heute ist es ein groß gewachsener junger Schwarzer, der für mehrere Gemeinden der Gegend zuständig ist. Außerdem haben sich anstelle der fehlenden Verwandtschaft ein paar Vereinsvertreter an ihren Tisch gesetzt. Alois, mit dem Gundi mal rumgeknutscht hat, Georg Bernleitner, den zu Gundis Jugendzeit alle »Girgl« nannten und der offenbar inzwischen Bürgermeister geworden ist, und Django. Der ist als Letzter gekommen, hat den Tischgenossen zugenickt, Gundi hat er nicht angesehen. Vielleicht hat er sie nicht wiedererkannt. Wie schon zuvor auf dem Friedhof während der Begräbnisfeierlichkeiten scheint er alle Fäden in der Hand zu halten. Dort gab er Zeichen für den Einsatz der Feuerwehrkapelle und scheuchte die Fahnenträger von irgendwelchen Vereinen vor sich her. Django ist der Boss von Hintersbrunn, denkt Gundi und bemerkt, dass er mit einer kreisenden Handbewegung in Richtung Wirt die Aufnahme der Getränkewünsche initiiert. Ganz verwirrt bestellt sie sich eine Apfelschorle, obwohl sie viel lieber ein Weißbier hätte. Und gerade als die ersten Suppen aus der Küche kommen, platzt der Fürbitten-Franz in die Wirtsstube und verkündet den Selbstmord eines Hundes, der einem gewissen Sackbauer gehöre, dessen Name Gundi nichts sagt.

 Fröhlich ist man bei so ernsten Angelegenheiten wie einer Gremess in Hintersbrunn oft, denn man lebt ja noch. Aber so lustig ist es selten. Ein lebensmüdes Haustier ist offenbar ein richtig guter Witz. Die Leute brüllen vor Lachen. Liesi springt auf, packt den verdatterten Franz am Arm und verfrachtet ihn auf eine Eckbank hinter der Garderobe, weg von den aufgeregten Leuten.

 »Ich bin nicht blöd!«, ruft der beleidigt und schon ist Django zur Stelle und baut sich vor Liesi und Franz auf.

Er sieht immer noch ziemlich gut aus, der Django, findet Gundi. Hat sich gut gehalten für sein Alter, muskulös, braun gebrannt und schlank. Nur statt seiner blonden Locken trägt er jetzt Vollglatze. Aus der Nähe bemerkt Gundi, dass der Kopf rasiert ist. 

»Jetzt mal ganz langsam, Franze«, sagt Django mit hochgezogenen Brauen und dem Anschein, als ob er sich das Lachen nur mühsam verkneifen könne. »Der Hund vom Sackbauer hat sich also aufgehängt?« Er seufzt betroffen. »Hat er endlich ein Ende machen wollen, hm? Haben ihn vielleicht die Katzen in die Verzweiflung getrieben? Oder gibt’s einen anderen Grund? Hat er vielleicht sogar einen Abschiedsbrief hinterlassen?« Django genießt die Lacher der Dorfbewohner sichtlich. Ein paar klopfen ihm auf die Schulter.

 »N… nein, es ist wahr«, wehrt sich Franz. »H… hin-ten im Scheideggerholz hängt er. Das ist k… kein Unfall gewesen!«

 Django dreht sich zu seinem Publikum und breitet die Arme aus. »Dann brauchen wir die Mordkommission!« Wieder gackern die Leute. Inzwischen hat sich eine Gruppe um Django gebildet, die mehr Sketcheinlagen auf Kosten des armen Franz erwartet. Ein paar andere stehen vor der Tür des Wirtshauses und telefonieren, und schließlich ist der Bräu der Erste, der sich wieder fasst.

 »Jetzt wird erst mal gegessen«, sagt er und alle fügen sich.

 Natürlich gibt es während des Schweinebratens nur ein Thema. Und vor der Nachspeise haben sich ein paar der Vereinsvertreter verabredet, die Sache in Augenschein zu nehmen. Zusammen mit Franz, der sich nach einem Knödel mit Soße wieder beruhigt hat, fahren sie zum Schauplatz des Geschehens. Als der ortsansässige Jäger wenig später mit seinem Anhänger auf dem Platz vor dem Wirtshaus hält, lassen alle ihren Nachtisch stehen. Auch Gundi und Liesi laufen hinaus und gaffen auf den großen weißen und mausetoten Hund auf der Ladefläche mit seiner gruselig langen blauen Zunge.

 »Schau, wie es dem den Bläschel herausgetrieben hat!«, flüstert einer.

 »Eindeutig. Der hat sich erhängt«, antwortet ein anderer. Man feixt wieder und raunt.

 »Den Hund hat jemand abgemurkst, das ist euch schon klar, oder?«

 »Aus Versehen ist der nicht verreckt …«

 »Hat es eigentlich schon jemand dem Sackbauer gesagt?«

 »Aus dem Weg!«, ruft schließlich eine tiefe Stimme, und wie auf Kommando treten die Dorfbewohner zurück und machen einem gut gekleideten älteren Herrn mit einem kunstvoll geschnitzten Spazierstock Platz. Der imposante Mann beugt sich langsam über den toten Hund und berührt zart dessen Kopf. Dann richtet er sich auf und sieht die plötzlich eingeschüchterten Dorfbewohner an wie das Gericht Gottes.

 »Das war Mord«, verkündet er laut und keiner lacht mehr. »Das wird Konsequenzen haben! Wenn das eine Kampfansage sein soll …«

 »Herr Professor Sackbauer«, unterbricht Bernleitner, weil er sich an sein Amt als Bürgermeister erinnert. »Das ist … Wir sind geschockt …«

Der Professor bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er weist den Jäger an: »Zu mir heim.« Das Auto mit dem toten Hund fährt los, der Herr Professor richtet einen letzten strafenden Blick auf die Gaffer und geht ebenso grußlos, wie er gekommen ist. Die Dorfbewohner sehen ihm schweigend nach, bis er mit seinem Stock klickend in die kleine Seitenstraße zu seinem Hof abbiegt. Anschließend trollen sie sich leise, einer nach dem anderen, und Gundi fällt auf, dass Liesi nicht mehr da ist. Drinnen in der Wirtsstube sitzen nur noch Django und ein paar Männer. Sie verstummen, als Gundi hereinkommt, um die Rechnung zu bezahlen. 

»Du bist der größte Gauner von uns allen …«, sagt Alois Münchinger grinsend zu seinem Freund Django. Nach einer Halben Bier stehen sie zum Rauchen vor der Tür des Bräus, wo vor Kurzem der Sackbauer seinen gemeuchelten Hund gestreichelt hat. 

»Warum?« Django nimmt die Zigarette, die ihm Alois anbietet, und lässt sich Feuer geben.

 »Hast unserem sauberen Professor Sackbauer zeigt, wer was zu sagen hat im Dorf, stimmt’s?«, geiert Alois.

 Django nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch langsam aus. »Wieso ich?«

 »Erhängt hat er sich, der Hund«, flüstert Alois und sieht Django verschwörerisch an. »Woher hast du das denn gewusst? Der Fürbitten-Franz jedenfalls hat nichts davon gesagt.«

 »Ah so.« Jetzt grinst Django. Er nimmt einen letzten tiefen Zug, schnippt die Kippe in hohem Bogen auf die Straße und blickt ihr eine Zeit lang nach. »Das hat er jetzt davon«, stellt er fest. »Glaubt der feine Herr Kunstprofessor wirklich, dass wir uns das gefallen las-sen? Dass der unser ganzes Dorf in den Dreck ziehen kann? Der schafft uns nichts an, das sag ich dir. Und jetzt weiß er das auch!«

 Alois nickt.

Spätabends nach der Beerdigung mit Sketcheinlage sperrt Django die Tür zu seiner Villa neben dem elterlichen Hof auf. Ist eigentlich nicht schlecht gelaufen, der Tag heute mit der Überraschung beim Leichenschmaus, denkt er und lächelt zufrieden.

 Als er ins Wohnzimmer kommt, im ersten Stock über seinem Büro, schallen ihm die schrillen Pfiffe von Tweety entgegen. Er hat ihn heute zu lange allein gelassen.

»Na, du Schlawiner?«, flötet Django und öffnet das Türchen zu dem großen Käfig, der zusammen mit einem belaubten Birkenast eine Ecke des riesigen Wohnzimmers einnimmt. Sofort hangelt sich der Nymphensittich an den Käfigwänden Richtung Ausstieg, klettert auf das Dach der Voliere und seine durchdringenden Laute gehen in ein angenehmeres Pfeifen über.

 »Hast mich vermisst, du Lauser? Hast mich vermisst, was?«

 Django beginnt zu pfeifen und zu schnalzen und lässt Tweety eine Weile an seinem Finger knabbern. Dann dreht er sich um und geht in die offene Küche. Kaum dass er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank geholt hat, landet der Sittich auf seiner Schulter und Django lässt es geschehen wie einen Windstoß, den man nicht weiter bemerkt. Er greift nach einer Tupperdose mit Schnipseln von gelben Rüben. Der Bauunternehmer und sein Vogel sind seit sieben Jahren ein eingespiel-tes Team in ihrer feierabendlichen Wiedersehensroutine.

 Auf dem Fernsehsessel legt Django die Füße hoch und sie beginnen ihr allabendliches Spiel, bei dem der Vogel auf der Hatz nach den Möhrenstückchen mit aufgestellter Federhaube auf Djangos Glatzkopf und Schultern herumklettert und flattert, während Django in Babysprache Versionen der Frage »Wo ist die böse Miezekatze?« säuselt. Schließlich hat Django genug und sein ausgestreckter Zeigefinger ist ein Befehl für den Vogel. Sofort klettert er darauf, und Django busselt seinen Gefährten drei-, viermal, bevor er ihm einen kleinen Schwung gibt. Tweety landet auf dem massiven Schrank im Kolonialstil und schwingt sich zurück zu dem auf-gestellten Ast neben seinem Käfig, wo er üblicherweise den Abend verbringt, um von dort aus zusammen mit Django fernzusehen. Zumindest scheint Django das zu glauben, denn seine Selbstgespräche zum laufenden Programm richten sich an Tweety. Und der antwortet jedes Mal mit einem leisen Pfeifen.

 Heute Abend kann sich Django nicht so recht auf das Fernsehprogramm konzentrieren. Der Sackbauer wird den Schwanz nicht gleich einziehen, denkt er. Der gibt jetzt erst recht nicht auf. Da muss er härtere Geschütze auffahren. Er weiß aber noch nicht, welche, und das wurmt Django. Schlecht gelaunt steht er auf, dirigiert seinen Vogel zurück in den Käfig und schnalzt eine Minute lang hinein, ehe er ihn mit einem Tuch bedeckt und den Fernseher ausschaltet. »The Dark Knight Rises« hat er sowieso schon tausendmal gesehen. Er holt sich noch ein Bier und grübelt eine Weile vor der Kühlschranktür. Mal schauen, was der Alte macht, denkt er schließlich und steigt die Treppe hinunter ins Freie auf den hell beleuchteten Vorplatz seiner Villa. Er will hinüber in das alte Bauernhaus.

 Hier, auf diesem Hof, ein wenig außerhalb von Hintersbrunn, ist Django aufgewachsen als Sohn des Landwirts und langjährigen Bürgermeisters Lorenz Schickaneder. Und als Enkel einer Legende. Djangos Großvater war der erste demokratisch gewählte Bürgermeister nach dem Krieg. Politisch unbelastet. Der hoch angesehene Ignaz Schickaneder war von 1946 bis zu seinem Tod 1977 mehr Volksheld denn Volksvertreter und ihm verdankt Hintersbrunn fast jede Art von Modernisierung. Nach seinem Tod war es keine Frage, dass ihm sein Jüngster, Djangos Vater, der einzig überlebende Sohn der Bauerndynastie, ins Amt nachfolgte. Es wurde gar kein anderer Kandidat aufgestellt damals, 1978. Für Django lief es nicht so glatt, das hat er früh erfahren müssen. Er war 11, als sein Vater ins Amt kam, zu saufen begann, nach und nach den Grund des Hofes verscherbelte und anfing, seinen Sohn regelmäßig zu verprügeln, während die kränkliche Mutter bis zu ihrem frühen Tod unbeirrt wegsah. Django wehrte sich auf seine Weise, so sieht er das heute, und seine Rebellion endete mit Trunkenheit am Steuer, Beleidigung und Körperverletzung. Weil er seine Strafe nicht bezahlen konnte und sein Vater ihn hängen ließ, landete er für ein paar Monate im Gefängnis. Ein kurzes Eheglück scheiterte, seine Ex verwehrte ihm den Kontakt zur Tochter und zog ans andere Ende der Republik. Als er wegen seines »Widerspruchsgeistes«, wie er heute sagt, seinen Arbeitsplatz als Maurergeselle verlor, hatte er eine Vision: Er wollte in die Fußstapfen seines Großvaters treten und aus dem dahinsiechenden Dorf, dem in den 1990er-Jahren die Einwohner davonliefen, ein attraktives Wohngebiet machen für all die vielen Menschen, die am neu gebauten Franz-Josef-Strauß-Flughafen arbeiten sollten. Mit ein paar ersparten Groschen gründete er seine eigene Baufirma. Es war ein steiniger Weg, geschenkt hat ihm keiner etwas, das sagt sich Django immer wieder, und an die Leiche im Keller dieser arbeitsamen Jahre denkt er fast gar nicht mehr. Zum Bürgermeister wurde Django zwar nicht gewählt, als sein Vater 2003 in Pension ging. Das war aber gar nicht nötig, er zog längst anderweitig die Fäden und hatte beste Beziehungen zur lokalen Politik. Die Bauvorhaben der Gemeinde und bald auch diejenigen der Nachbargemeinden gingen alle an ihn und so ist es bis heute.

 Stolz blickt er auf seine Villa und überschlägt kurz, wie viele Baustellen im Landkreis er gerade managt. Über die ehemalige Stallschleuse links von der eigentlichen Eingangstür betritt Django das alte Bauernhaus, in dem sein 80-jähriger Vater allein in der Stube lebt. Wie jeden Abend sitzt der inzwischen geschrumpfte Greis im Schlafanzug am Küchentisch und brabbelt laut vor sich hin. Der abendliche Pfleger hat das Geschirr vom Abendessen in der Spüle stehen lassen und den alten Mann bettfertig gemacht, bevor er zum nächsten Patienten seiner Runde weitergefahren ist.

 »Was machst du denn noch auf, du Blödhammel?«, fragt Django, doch der Vater hört ihn anscheinend nicht.

Django ergreift eine Zeitung, die auf dem Bänkchen vor dem Kachelofen in der Ecke liegt, rollt sie zusammen und haut sie dem Alten über den Hinterkopf.

 »Ahhh! Au!«, schreit der und zieht den Kopf ein, ohne sich nach dem Angreifer umzusehen.

 »Weißt wieder nicht, was dir geschieht, hm?« Für einen kurzen Moment wird Django noch aggressiver. Am liebsten würde er dem unnützen Fresser ganz den Garaus machen. Dann aber wirft er die Zeitung auf den Tisch und dreht sich um. Als er die Stubentür abschließt, sieht er, wie der Alte neugierig danach greift.

 »Vollkommen vertrottelt«, murmelt Django.

Erste Alzheimersymptome gab es früh, aber es hätte auch vom jahrelangen Alkoholmissbrauch kommen können, dass der alte Bürgermeister schon bald nach seiner Pensionierung Namen vergaß und im Wirtshaus nicht mehr wusste, was er gezecht hatte. Eines Morgens saß er mitten im Dorf auf dem Gehsteig, fand nicht mehr heim und wäre in der Nacht beinahe erfroren. Nie wird Django den vorwurfsvollen Blick der Kramer Res vergessen, dieser vertrockneten Moralamsel, die den Alten nach Hause brachte. Seitdem lässt Django seinen Vater nicht mehr raus. Seinen Aktionsradius hat er auf die Stube reduziert, wo neben Tisch und Bett der für seinen Vater unzugängliche Kachelofen den Raum dominiert. Die Wege dazwischen hat Django mit fixen Holzgeländern eingezäunt wie beim Check-in am Flughafen. Da marschiert der Alte den ganzen Tag seine Runden. Inzwischen ist der ehemalige Bürgermeister fortgeschritten dement, schreit manchmal den ganzen Tag unverständliches Zeug, flucht, will heim oder ins Rathaus, hat Körperhygiene vollkommen vergessen, kann nicht alleine essen und seine Ausscheidungen nicht mehr kontrollieren. Dreimal täglich kommen Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes, und im Dorf sagt Django: »Mein Vater bekommt alles, was er braucht.«

 Am Tag nach der Beerdigung des alten Bäckermeisters ist der »Hundemord« das einzige Gesprächsthema in Hintersbrunn. Tatsache ist, dass der edle, große Hund des ortsansässigen Professors Sackbauer im Wald auf-geknüpft worden ist. Tatsache ist, dass es kein Unfall gewesen sein kann, sondern dass jemand den Hund am Hals hochgezogen hat und qualvoll verenden ließ. Tatsache ist, dass der Tod durch Erhängen eintrat und dass die gerufene Polizei eine Anzeige aufgenommen hat. Gegen unbekannt. Irgendwer erzählt, dass der Professor in einem Wutanfall gedroht hat, das ganze »Faschisten-Dorf« in Grund und Boden zu verklagen. Und Tatsache ist, dass sich die Täterschaft Djangos zwar im Dorf herumspricht, kein Wort davon aber zum Professor dringt.
(…)