Zur Startseite Katharina Lukas

Katharina Lukas

Autorin

„Herrschaftszeiten no amoi“

„Herrschaftszeiten no amoi!“

Die Journalistin Gundi Starck recherchiert in einem ungeklärten Mordfall aus dem Jahr 1985. Ein durch seine Sperrbezirksverordnung bekannter Politiker wurde auf dem Oktoberfest erstochen – mit einem Hendlspieß. Er war gegen den gewohnheitsmäßigen Schankbetrug auf der Wiesn vorgegangen. Dann geschieht noch vor dem langersehnten »Ozapfen« ein weiterer Mord. Der »Wurstkönig von der Wiesn« wurde auf der für den Oberbürgermeister vorbereiteten Bühne in einem Trog mit Saublut ertränkt. Auch diese Tat scheint mit der aktuellen Kommunalpolitik zu tun zu haben. Bei ihren Recherchen lernt Gundi sowohl den attraktiven Benedikt Richter kennen, einen linken Aussteiger, der in den 1980er-Jahren in der Hausbesetzerszene aktiv war, als auch den Neonazi und ehemaligen Skinhead Markus Huber. Bald erkennt sie einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen und gerät in tödliche Gefahr.

Die Gaudi, das Bier, der Exzess: Für die einen ist die Wiesn ein Traum, für die anderen ein Albtraum. In Katharina Lukas’ Oktoberfest-Krimi „Herrschaftszeiten no amoi!“ tun sich Abgründe auf, allerdings der etwas verschärften Art. Der Roman lebt nicht nur von seinem deftigen schwarzen Humor und der von sämtlichen Frauenklischees befreiten Hauptfigur. Zeitgleich gelingt es der Autorin auf elegante Weise, unzählige politische Anspielungen auf die münchner, die bayerische und die deutsche Geschichte hineinzuschmuggeln. Diese reichen von eher harmlosen Schrullen wie der ewigen Debatte um Schankbetrug über die Doppelmoral im Umgang mit Prostitution bis hin zur Hatz auf HIV-Infizierte und Homosexuelle in den späten 80er-Jahren. (…) Dem Roman gelingt es, sich selbst darüber auf hintersinnige Art lustig zu machen, und das mit viel schwarzem Humor.
Katrin Hildebrand, HALLO München, 21.9.2022

Katharina Lukas hat mit „Herrschaftszeiten no amoi!“ zweifelsohne einen herrlichen Wiesn-Krimi geschrieben - süffig (im wahrsten Sinne des Wortes), spannend, böse, deftig, voller Lokalkolorit und kantiger Charaktere, mit jeder Menge Witz und augenzwinkerndem Humor.

Wie schon in ihrem Debüt „Sacklzement“ schickt sie dabei wieder die Journalistin Gundi Stark als Ermittlerin ins Rennen, und verwickelt sie nicht nur in einen aktuellen, grausligen Mord auf dem Oktoberfest, sondern auch in einen ähnlichen, ungelösten Fall in den 80er Jahren - eine wunderbare, grandios recherchierte Zeitreise.
Hans Grünthaler, Buchhandlung Schmid, Schwabmünchen, 29.9.2022

Die Vermischung geschichtlicher Realität mit fiktiven Ereignissen und die kritische Auseinandersetzung mit diversem zwischenmenschlichem Verhalten von Politik und bayrischer Lebenskultur hat mir ausgezeichnet gefallen. Der spannungsreiche und wissensvermittelnde Plot, die vielschichtigen Charaktere und die vielfältigen zwischenmenschlichen Beziehungsebenen machen diesen Bayernkrimi zu einem interessanten Leseerlebnis.
Penndorf Rezensionen, Oktober 2022

„Herrschaftszeiten no amoi“, so lautet der Titel des neuen Krimis von Katharina Lukas. Der handelt nicht nur vom Mord am Wurstkönig Hacklbauer, sondern auch von schlecht eingeschenktem Bier, Machtspielchen, Verstrickungen von Politikern mit Wirtsleuten und um Scheinheiligkeiten – als ob es sowas im wahren Leben gibt!!
Hauptfigur Reporterin Gundi Starck ermittelt, begibt sich auf ganz dünnes Eis, gerät sogar selbst in Gefahr und entdeckt Verwicklungen zu einem längst verjährt geglaubten Mord auf der Wiesn in den 80er Jahren.
Verfasst in herrlich bayerischer Sprache, garniert mit Spannung, Humor und feiner Beschreibung der Charaktere – ein unterhaltsames Lesevergnügen, nicht nur zur Wiesn!
Erica Gebhart, Reisen & Golfen, Oktober 2022

Kapitel 1

Töten ist eine unvergleichliche Angelegenheit. Vorher, wenn du es dir ausmalst, ist dir durchaus klar, dass es kein Pipifax ist. Du darfst nicht patzen. Wenn es schiefgeht, bist du am Arsch, weil sich dein Opfer sogleich zur Wehr setzt. Also konzentrierst du dich und siehst zu, dass jeder Handgriff sitzt. Vor dem ersten Mal glaubst du noch, dass es ein Job ist, den man gut oder schlecht machen kann. Aber nun geschieht es. Im Moment des Tötens blickst du in die Augen deines Opfers und siehst, dass es genau weiß, was gerade passiert. Du kannst diesen Blick lesen und du verstehst voll und ganz, was es heißt, getötet zu werden. Sekunden später siehst du in denselben Augen die Leere. Oder das schwarze Nichts. Es ist bis ins Mark erschütternd. Und dann? Dann willst du es wieder.

Wie jeden Morgen geht Hacklbaur junior auch am Tag vor dem Anstich des ersten Oktoberfests nach Corona zum Joggen in die nördlichen Isarauen. Und wie immer holt er sich nach getanem Auslauf beim Riedmair eine Schnitt- lauchbreze zum Frühstück, bevor er zu seiner Villa in der Mauerkirchner Straße zurücktrabt.

»Wurscht gibt’s erst nach dem Zwölfeläuten!«, scherzt er und zwinkert den Verkäuferinnen zu, die wissen, wen sie vor sich haben: den »Wurstkönig vom Oktoberfest«, Betreiber der größten Schweinswürstlbraterei auf der Wiesn, der ein fleischloses Frühstück kauft.

Der Septemberhimmel über München verspricht einen warmen Herbsttag und Michael Hacklbaur ist besonders gut gelaunt. Auf dem morgen beginnenden Oktoberfest wird er innerhalb von gut zwei Wochen eine halbe Million Schweinswürstl verkaufen. Deshalb gibt er heute sogar Trinkgeld.

»Für die Wurschtkasse«, schäkert er und lässt das Wechselgeld von 40 Cent auf dem Tresen liegen.

Anders als sein Vater, der unbemerkt von der Öffentlichkeit die Strippen zog, wird der Sohn und Erbe des Fleischimperiums Hacklbaur gerne von den Menschen erkannt. Die großen Augen der Bäckereifachverkäuferinnen genießt er ebenso wie die Blitzlichter der Paparazzi beim morgendlichen Verlassen eines Nachtklubs. Manchmal lässt er seine Rendezvous mit den aufgebrezelten It-Girls Münchens an die Presse durchstechen. So jung, wie das Namensanhängsel »junior« suggeriert, ist Michael Hacklbaur nicht mehr. Seine Beine stecken in modernen Lauftights und die taillierte Funktionsjacke verrät den Torso eines Endvierzigers. Dennoch legt er großen Wert auf ein jugendliches Erscheinungsbild, wofür er die Strapazen des morgendlichen Waldlaufs gerne auf sich nimmt. Nie will er so werden wie sein Fettwanst von Vater, dem man den Schlachter schon von Weitem ansieht. Den Kampf um die Oberhoheit über den elterlichen Betrieb hat der Junior für sich entschieden, wobei ihm der Schlaganfall des Alten nicht unwesentlich geholfen hat.

Dann hätte ihm Corona beinahe den Spaß verdorben. Gleich zu Beginn der Pandemie musste er seine Schlacht- betriebe vier Wochen lang schließen und alle 5.000 Mitarbeiter in Quarantäne schicken. Die Medien veranstalteten eine regelrechte Hetzjagd auf ihn und die verhassten Aktivisten suchten sogar nach Ratten in seinen Kühlhäusern. Hacklbaur junior wischt seine Empörung darüber beiseite wie die Erinnerung an einen Albtraum und tritt ins Freie. Schon mit seiner ersten unternehmerischen Entscheidung ohne den Senior ist ihm ein Coup gelungen. Seine »Fitness-Weißwurst« ist der Renner bei ernährungsbewussten Hipstern und moppeligen Home-Office-Opfern. Wenig Fett, viel Protein und dank der genialen Werbebotschaft »Low-Carb Dinner« nicht mehr an die traditionelle Verzehrzeit vor 12 Uhr mittags gebunden. Der Junior grinst, als er an den nuschelnden Einspruch seines Vaters im Rollstuhl denkt.

Am morgigen Samstag wird es nach der pandemisch bedingten Zwangspause endlich wieder losgehen auf der Theresienwiese. Im Vorfeld hat er sich die Auszeichnung der Wurstprüfungskommission »Beste Wurst auf der Wiesn«, die während des laufenden Bierfests veröffentlicht werden wird, einiges an Netzwerkpflege kosten lassen. Den satten Gewinn aus seiner Wurstbraterei auf dem Festgelände vor Augen trabt er über die Straße zu dem kleinen Hölzl, das seine Villa von der Straße trennt. Ein gewohnheitsmäßiger Umweg für ein paar zusätzliche Fitnesseinheiten, der seinem Mörder die nötige Zeit verschafft, sich zu positionieren.

Er sitzt in einem der geparkten Autos vor der Bäckerei. Seinem Opfer spioniert er schon seit Tagen hinterher, um sicherzugehen, dass der reiche Erbe keine Variationen in die morgendliche Lauf-Routine einbaut.

»Drecksau, elendige«, murmelt er, als Hacklbaur junior mit seiner Tüte in der Hand vor seinem Auto vorbei- schlendert. Zuerst wollte er ihn einfach überfahren, diesen selbstgerechten Machtmenschen, der nie nach rechts und links schaut, wenn er die Oberföhringer Straße über- quert. Als ob er über den Verkehr genauso diktatorisch gebieten könnte wie über seine Arbeiter in den Schlachthöfen. Aber so einfach darf er es sich nicht machen. Er muss ein Zeichen setzen. Er ist überzeugt davon, dass der Wurstfabrikant der Feind ist. Einer, der sich alles kaufen kann. Häuser, Flugzeuge, Frauen. Er weiß aus gesicherten Quellen, dass Hacklbaur junior zur geheimen Machtelite gehört, die das Coronavirus entwickelt hat, um die Massen zu manipulieren. Er hat mit seiner Schweinemast für die Verbreitung des Virus in Bayern gesorgt. Um zusammen mit den Bierbaronen und anderen Kinderfressern seine widerlichen Ziele zu erreichen.

»Im Blut sollst verrecken!«, murmelt er wie zur Beruhigung, bevor er den Anlasser dreht. Michael Hacklbaur ist eine Sau. Und Säue müssen geschlachtet werden.

Der Angreifer versteckt sich unter den dichten Ranken, die über die mannshohe Gartenmauer rund um das Anwesen des Wurstkönigs wuchern. Michael Hacklbaur kommt nach seinem Krafttraining auf dem Fitness-Parcours im Hölzl die menschenleere Straße entlang und öffnet das Tor mit einem Pieper in der Hosentasche. Er nestelt die Breze aus seiner Frühstückstüte und bemerkt nicht, wie hinter ihm jemand durch das sich schließende elektrische Tor schlüpft. Breitbeinig wie ein Cowboy vor dem Duell bleibt der Eindringling an der Auffahrt zur Villa stehen. Das Tor hinter ihm fällt lautlos ins Schloss. Hacklbaur schlendert die Kiesstraße zu seiner Villa hoch und beißt in seine Schnittlauchbreze, als der Cowboy seine Attacke ausruft.

»Drecksau!«, donnert er und Hacklbaur fährt herum. Der Junior erkennt einen Mann in schwarzglänzender Schlachterschürze. Auf dem Grundstück, innerhalb des schützenden Gartenwalls. In einer Hand baumelt ein Kälberstrick. In der anderen Hand hält er ein Bolzenschuss- gerät. Eins von der Sorte, das in den Schlachthöfen des Wurstfabrikanten die größten Ochsen von den Beinen reißt. Hacklbaur erstarrt. Schlagartig wird ihm klar, dass der ungebetene Gast ihm etwas antun will, denn er hat Augen, als ob der Geist von Charles Manson in ihn gefahren sei.

Geistesgegenwärtig lässt der Junior seine Frühstücksbreze fallen, dreht sich um und rennt auf die Villa zu. Ausgerechnet heute ist niemand im Haus, schießt ihm durch den Kopf, aber er hat einen Panikraum, den er erreichen kann.

Seine Flucht endet nach wenigen Metern. Irgendetwas reißt ihn von den Füßen und er landet flach auf der Auffahrt. Er krümmt sich zusammen und bemerkt einen strammen Strick um seine Arme und seinen Körper.

»Was soll das?«, entfährt es ihm. Intuitiv beginnt der gefallene Wurstkönig, sich zu winden, um sich aus der Schlinge zu befreien. Da bemerkt er einen Schatten. Er dreht seinen Kopf hoch und blickt in ein schwabbeliges Gesicht, auf dessen Stirn eine GoPro rot blinkt.

»Nein«, fleht er. »Bitte nicht!«

»Geh ma, Chef!«, antwortet das Gesicht und grinst.

»Geh ma auf a Lackerl Blut!« Der Mörder setzt das Bolzenschussgerät an Hacklbaurs Stirn.

 

Kapitel 2

 

Gundi Starck steht zur selben Zeit vor dem vertrauten Verlagsgebäude. 20 Jahre lang ging sie hier täglich ein und aus, allerdings schaffte sie ihren Dienstbeginn als Redakteurin für Klatsch und Tratsch über die Münchner VIPs nie so früh. Das »Münchner Tagblatt« war ihr Arbeitgeber gewesen, die Kollegen ihre Familie, die Zeitung ihre Heimat. Wie viele Reporter, die abends zu Terminen unterwegs sind, ist sie eine Nachteule. Heute hat sie schon um 10 Uhr einen Termin bei ihrem ehemaligen Ressortleiter. Selbst zwei Jahre nach ihrem Rauswurf hatte Gunther sich anfangs geziert, sie zu empfangen. Als ob eine Kündigung ein Makel wäre. Man wird für die Ex-Kollegen sofort zur Unberührbaren, das hatte Gundi nach ihrem Rauswurf gespürt. Es ist, als ob man plötzlich eine ansteckende Krankheit hätte.

Gunther ist Feuilletonchef beim Tagblatt und in seinen Bereich fällt auch die leichte Unterhaltung, in der Gundi früher so gut war. Ein bitteres Gefühl macht sich in ihrem Magen breit. Vielleicht hätte sie doch etwas frühstücken sollen, anstatt eine Stunde im Bad zu verbringen, um sich die Haare hochzustecken und sich unter Jeans und T-Shirt in Spanx zu quälen. Gundi war lange Zeit die beste Society-Reporterin beim Tagblatt gewesen. In jungen Jahren hatte sie eine feste Kolumne, in der sie die Neuigkeiten aus dem Liebesleben der Münchner Stars aus Film und Fernsehen erörterte, und war Gast auf jeder Backstage- Party. Sie pflegte Beziehungen zu Promis und Möchtegern-Stars und ihre süffisanten Geschichten waren eine schöne Weile lang der Grund, warum sich die Münchner das Tagblatt kauften. In ihren letzten fünf Jahren bei der Zeitung war ihr kein großer Coup mehr gelungen. Die Romanze eines Pop-Sternchens mit einer verheirateten Ski-Legende, der sie mit heimlich gemachten Fotos auf die Spur kam, war lange her. Klatsch und Tratsch wieder- holten sich, die sogenannten Stars wurden in ihren Augen immer hohler, mehr und mehr eroberten die Teppichluder und Realitystars die Schlagzeilen und Gundi verlor »ihren Biss«, wie man sagte. Als sie mit Ende 40 ihren bis dato sicher geglaubten Job verlor, stand sie zunächst vor dem großen Nichts. Sie verstand nicht, warum es ausgerechnet sie traf. Aus »Compliance-Gründen«, sagte der Chefredakteur, sie hatte nur einen Pauschalistenvertrag. Weil ihr gleichzeitig ein ungelöster Mordfall in ihrem niederbayerischen Heimatdorf in den Schoß fiel und andere Blätter für ihre exklusive Berichterstattung gutes Geld zahlten, war sie zunächst zuversichtlich gewesen, was ihre berufliche Zukunft anging. Ein »Neuer Fall für Gundi Starck« ergab sich aber nicht, auch eine neue Anstellung fand sie nicht.

»Wer stellt schon eine Frau ein, die über 50 ist«, klagt sie seither. »Männer sind dann in den besten Jahren. Frauen sind alt.«

Die Stütze vom Amt ist seit geraumer Zeit ausgelaufen und ihre Ersparnisse sind aufgebraucht. Jetzt droht Hartz IV. Sie ist mit ihrer Miete im Rückstand und braucht dringend Kohle. Und sie weiß, dass ihr ehemaliger Ressortchef zum Start des Oktoberfests in Arbeit ertrinkt. Sie schluckt die kränkenden Erinnerungen an ihren Rauswurf und den allgemeinen Groll über ihr Schicksal hinunter, betritt den Verlag durch die Drehtür und meldet sich beim Empfang an.

Der Feuilletonchef richtet seine geradlinig aufgereihten und nach Länge geordneten Bleistifte auf dem Schreibtisch zwischen ihnen millimetergenau neu aus, bevor er etwas sagt. Gundi hatte ihm angeboten, jede Nacht aus dem Käferzelt zu berichten und dem nächtlichen Chef vom Dienst exklusive Wer-mit-Wem-Fotos zu schicken, und er hatte keine Miene verzogen.

Er riecht meine Verzweiflung, fürchtet sie in Gedanken.

»Ich weiß nicht, ob dieser Job das Richtige für dich ist, Gundi«, antwortet er nach einer kurzen Denkpause, die Gundi wie minutenlange Missbilligung vorkommt.

»Wieso, ich hab es doch immer verstanden mit der Schickeria … grad zur Wiesn … Wieso nicht das Richtige? Was meinst du denn damit, Gunther?«

»Schickeria? Echt jetzt? Gibt es die noch? Die ganzen neuen Realitystars heute und die Influencer … kennst du die überhaupt?«

Gundi ahnt, dass sie gleich eine Kröte schlucken muss.

»Und außerdem müssen die jungen Redakteure heute alle SEO-optimiert schreiben und selbst republishen. Mit den Tools, mit denen wir Zielgruppen-Traffic messen«, fährt er fort.

SEO, republishen, Traffic, Tools – all das schreckt Gundi nicht. Die Kröte ist etwas anderes, das spürt sie. Ihre mangelnde Jugend. Sie ist nicht mehr jung genug.

»Das ist nichts, was ich nicht auch kann«, widerspricht sie todesmutig.

Ihr ehemaliger Ressortleiter steht auf und schließt die Tür seines Büros, die Gundi offen vorgefunden hat, als sie eintrat. Zur Begrüßung hatten sie über die guten alten Zeiten geplaudert. Sie hatten zur selben Zeit beim Tagblatt angefangen, Gunther und sie. Er mit einer akademischen Journalistenausbildung, Gundi mit nichts als ihrem schlagfertigen Mundwerk und ihrer Jugend. Er hatte einen einflussreichen Ziehvater beim Tagblatt, einen namhaften Theaterkritiker in München, sie stammte aus einer Bäckersfamilie vom Land. Und dann war sie zu einem »Gesicht« des Tagblatts geworden. Ein hübsches Gesicht, mit dunklen langen Haaren und einer Ausstrahlung, die Türen öffnete. Sie schlug sich die Nächte um die Ohren auf After-Show-Partys, auf Filmpremieren und Konzerten und hatte von vielen Prominenten die private Handynummer. Gunther blieb als Faktenfuchs hinter den Kulissen, selektierte und korrigierte in der Redaktion bis spät in die Nacht die Nachrichten, die ihm die Reporter von draußen lieferten. Er war überzeugt, dass es die schludrig formulierenden Berichterstatter draußen intellektuell mit ihm nicht aufnehmen konnten. »Korinthenkacker« nannten die Schreiber ihn, wenn er ihre Zeilen zurechtstutzte.

»Es ist nun einmal so«, widerspricht Gunther und setzt sich wieder hinter seine aufgereihten Stifte. »Wenn du mal raus bist, bist du raus.«

Gundi versteht und beginnt zu nicken. Man soll ja jeden Morgen eine Kröte schlucken, erinnert sie sich an den Spruch eines französischen Schriftstellers. Um sicherzugehen, dass dieser Tag nichts Schlimmeres mehr bringen kann.

»Du gibst mir also keinen Job?«, fragt sie, als wäre sie begriffsstutzig. Gunther schüttelt grimmig den Kopf.

Trotz einer Vorahnung hatte sie nicht erwartet, so eis- kalt abzublitzen. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr der Ex-Kollege irgendeinen Scheißjob anbieten würde. Kleinere Sachen vielleicht, mit denen sie ihren Mietrückstand ausgleichen hätte können. Eine Filmkritik oder eine verdammte Baumarkteröffnung wenigstens. Tränen schießen ihr in die Augen, und um sie zu verbergen, steht sie auf. Wie konnte sie nur vergessen, dass Gunther schon immer ein neidischer, kleiner Wicht war. Die miese Rache des Korinthenkackers.

»Leck mich«, sagt sie. Sie will die Tür kraftvoll hinter sich zuschmeißen, als ihr Gunther noch etwas nachruft:

»In deinem Alter laden die dich ohnehin nicht mehr auf die wichtigen Events ein …«

Die Tür knallt.

Gundi fühlt sich, als ob sie während des kurzen Gesprächs mit dem Feuilletonchef um weitere zehn Jahre gealtert ist. Jetzt steht sie an der Fußgängerampel vor dem Verlag und bemerkt nicht, dass längst Grün ist. Sie steht einfach da und starrt die Straße an.

»Was hast du denn geglaubt?«, schimpft sie sich aus.

»Dass man auf dich gewartet hat? Journalisten, die Geschichten schreiben können, gibt es genügend. Jüngere Leute. Leute, die weniger Honorar wollen. Die besser sind als du.«

Gundi presst ihre Hände auf den Mund. Nicht genug, dass sie sich durch die Ablehnung alt und überflüssig fühlt. Jetzt zweifelt sie sogar an ihrem Können.

»Gemma, Oma!«, witzelt ein Mann hinter ihr an der erneut auf Grün gesprungenen Fußgängerampel und marschiert an ihr vorbei auf die Straße. Wütend über den frechen Lackl, noch mehr über ihre Selbstzweifel, brüllt sie ihm hinterher. »Hast du kein eigenes Leben, Depp?«

Irgendwann schafft es Gundi über die Ampel. Sie beschließt, die zwei U-Bahnstationen bis zum »Monarch« zu laufen. Die Sonne lacht wie zum Hohn über München und im Straßencafé gegenüber sitzen Leute, die die morgige Eröffnung des endlich wieder stattfindenden Oktoberfests nicht mehr erwarten können und in Lederhosen und bunten Edeldirndln heute schon vorglühen. Nach diversen Notbremsen zum Infektionsgeschehen ist die »Bierpreisbremse für die Wiesn« das beherrschende Stadtgespräch in München.

Über dem Richard-Strauss-Tunnel schlendern Einheimische und Touristen in der Vormittagssonne. Niemand beachtet Gundi. Sie ist unsichtbar. Einmal mehr wird ihr bewusst, dass sie früher auf der Straße die Blicke der Männer anzog. Heute sieht sie keiner mehr begehrlich an. Wenn überhaupt, dann schauen sie durch sie hin- durch.

»Ich kann doch nichts anderes als schreiben«, klagt sie ihrem alten Freund Ferdl, dem Direktor der Promi-Absteige. Von ihm hat sie in ihren Reportertagen manchen Tipp bekommen, wenn zum Beispiel ein internationaler Star inkognito eincheckte. Das »Monarch« ist ihr zweites Zuhause. Hier hat sie ihre Knüller gefeiert und auch manchen Misserfolg ertränkt. Äußerlich grundverschieden, haben die beiden die Klatschsucht über allzu menschliche Verfehlungen und die Vorliebe für Weißbier aus der Flasche gemeinsam. Und sie stehen beide auf denselben Typ Mann. Gundi kennt Ferdinand Freudenreich, seit sie als junge Frau aus ihrer dörflichen Heimat nach München geflüchtet ist. Er kennt ihre geheimen Unzulänglichkeitsängste wegen ihrer einfachen Herkunft und ihres fehlenden Bildungsabschlusses. Bei Ferdl muss Gundi nicht schön sein. Nicht jung oder dynamisch, und ob sie »wer war«, interessiert Ferdl nicht. Er ist zehn Jahre älter als sie und sie vertraut seiner Klugheit in allen Lebenslagen.

»Der Anspruch, dass jeder erfolgreich sein muss, ist doch unmenschlich«, hatte er sie getröstet, als sie arbeitslos wurde. »Das Ideal ist der erfolgreiche Berufsweg, aber die Norm ist das Scheitern. Du musst dich also nicht zerfleischen. Du bist einfach nur ein Mensch.«

»Du hast leicht reden, mit deinem Job als Hoteldirektor«, hatte Gundi gekontert und Ferdl hatte sie, wie so oft in letzter Zeit, mit Gulaschsuppe aus der Hotelküche und Weißbier versorgt.

Hier in der unteren, renovierungsbedürftigen Bar des Hotels, die den Gästen nicht offensteht, treffen sich die Freunde seit vielen Jahren mehrmals die Woche. Es ist ihr Klubraum. »Klub der Oberschlauen«, nannten sie sich, wenn es einen beruflichen Erfolg zu feiern gab. »Klub der Kenner« oder »Klub der Glücklichen«, je nach Anlass. In letzter Zeit waren sie vermehrt der »Klub der Übriggebliebenen«. Die Wahrheit ist, dass auch Ferdl müde geworden war und der Putz des VIP-Renommees am »Monarch« zu bröckeln begann. Als angestellter Hoteldirektor konnte er jederzeit vom Inhaber ersetzt werden und manchmal wünschte er sich das. Dann wäre er gezwungen, das zu tun, wovon er träumte: ein eigenes Hotel zu führen. Aber jede weitere Saison mit Arbeit bis zur Oberkante Unterlippe im Hotelbetrieb lässt diesen Traum ein klein wenig mehr verblassen.

Gundi bekommt beim Gedanken, sich zusammen mit ihrem besten Freund Ferdl selbstständig zu machen, allerdings heimlich immer ein wenig Atemnot. Sie hatte sich beim Tagblatt nie anstellen lassen, sondern gegen Honorar gearbeitet. Ihre größte Angst war es, abhängig zu sein. Auf jemanden angewiesen zu sein. Sie hatte es nicht erwarten können, mit 18 endlich von Zuhause auszuziehen. Sich aus der Abhängigkeit von ihrem Vater zu befreien, der sie schon als Kind in seiner Landbäckerei einspannte und schuften ließ. Als Jungredakteurin mit Biss wehrte sie alle Versuche einer »Blattbindung« ab. Sie verdiente lieber ausschließlich, was sie sich erarbeitete. Nicht mehr und auch nicht weniger. Ein Ehemann, der das Geld nach Hause bringt, kam für sie nie infrage.

»Vielleicht gehe ich demnächst putzen«, resigniert sie.

»Oder ich hartze bis zur Grundsicherung.«

Trotz der ungewöhnlich frühen Zeit für ein Klubtreffen macht ihr Ferdl in der Bar des Hotel Monarch eine Flasche Trostweißbier auf.

»Wie steht es denn mit deinen Recherchen zum Cold Case Strangassinger?«, fragt er, aber sie winkt nur ab.

 

Kapitel 3

 

 1985 

Strangassinger war ein hoher Verwaltungsangestellter der Stadt München und federführend an der sogenannten »Skandalwiesn« beteiligt gewesen, die ein Jahr vor seiner Ermordung die Bewohner der bayerischen Landeshauptstadt bis ins Mark erschütterte.

In München gehen die Uhren bekanntlich anders. In Wahrheit gibt es eine andere Zeitrechnung als im Rest der Republik. Es gibt eine Zeit vor und eine Zeit nach der Wiesn. Es scheint, als ob die Stadt nach dem jährlichen Oktoberfest in eine Art verkaterten Winterschlaf fällt, aus dem sie zum Frühlingsfest wieder erwacht. Anlässlich dieser Generalprobe für das große Fest im Herbst hat eine weitere Gepflogenheit Tradition: die Frage nach dem Bierpreis. Was darf eine Maß Bier auf dem Oktoberfest kosten?

Inhalt, Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit einer Maß Bier ist etwas, das die Münchner seit Jahrhunderten tief bewegt. Da Bier im Verständnis der Einheimischen als Grundnahrungsmittel gilt, steht es seit 1516 unter besonderem Schutz.

In der Geschichte der Stadt kam es immer wieder zu gewalttätigen Aufständen in der Bevölkerung, wenn die ortsansässigen Brauer den Preis für Bier anhoben. 1844 führte eine Bierpreiserhöhung von einem Pfennig pro Liter zu Krawallen in der Münchner Innenstadt. Mehrere Tausend Menschen zogen randalierend durch die Straßen zu den Brauhäusern und demolierten dort die Einrichtungen. Schließlich musste der bayerische König höchstselbst einschreiten und die Preiserhöhung zurücknehmen. 1866 waren die siegreichen Preußen schuld an einer erneuten Preiserhöhung und die Bierkrawalle in München forderten sogar Todesopfer.

1888 kam es zu einer Massenschlägerei zwischen 4.000 empörten und in mehrerlei Hinsicht geladenen Gästen des Starkbieranstichs in der sogenannten »Salvatorschlacht«, die nur durch berittenes Militär eingedämmt werden konnte. Die Brauer wollten auf dem Nockherberg durch die Einführung einer »Drei-Quartel-Maß« unbemerkt den Preis für die Maß erhöhen. Bis heute kommt es jedes Jahr zu jähem Volkszorn, wenn die Brauereien den diesjährigen Preis der Wiesnmaß verkünden.

Seit 1899 kümmert sich der »Verein gegen betrügerisches Einschenken e. V.« mit seinen 4.000 Mitgliedern um das richtige Maß in der Maß. Der Verein wehrt sich vehement gegen die von der Stadt München konstatierte »Toleranzgrenze«, nach der in einer Maß Bier nur 0,9 Liter zu sein hat. »Behördlich gebilligter Schankbetrug« nennen die Bierwächter das.

Selbst durch den technischen Fortschritt kam der ewige Konflikt zwischen Trinkern und Brauern nicht zur Ruhe. Als der Glaskrug den traditionellen Maßkrug aus Stein ersetzte, entschärfte das den Streit, ob genügend Bier darin sei, nur bedingt. Denn zu jeder frischen Maß gehört Schaum, der sich nur teilweise zurück zu Bier verwandelt. Daher wurde auf den Krügen eine vier Zentimeter hohe Schaumzone über dem Ein-Liter-Füllstrich eingeführt.

Sogar die Technische Universität der Stadt München war in der Schicksalsfrage aktiv. Die Wissenschaftler dort fanden heraus, dass es nach der Frischzapfung einer Maß Bier 30 Sekunden dauert, bis sich Bier und Schaum voneinander trennen. Danach dauert es weitere drei Minuten, bis man die Menge des Bieres und die Menge des Schaumes in einer Maß bestimmen kann. Durchschnittlich ergeben drei bis vier Zentimeter Schaum einen Zentimeter Bier. Eine zuverlässige Bestimmung der Biermenge in einer Maß ist nach vier Minuten möglich.

Vorbote der »Skandalwiesn«, auf der Rudolf Strangassinger Berühmtheit erlangte, war der Beitrag eines jungen Moderators des Bayerischen Rundfunks im Vorjahr. Günther Jauch berichtete seinen Zuhörern, dass aus einem 200-Liter-Hirschen im Festzelt des legendären Wiesnwirts Valentin Bierbichler sagenhafte 289 Liter Bier gezapft wurden. Die ewig schwärende Wunde am Bierbauch des Münchner Volkskörpers war geöffnet.

Derart sensibilisiert, brachte sich zum Auftakt des Oktoberfests im darauffolgenden Jahr der damalige Stadt- rat Rudolf Strangassinger gegen betrügerisches Einschenken auf der Wiesn frühzeitig in Stellung. Es ging um die Gunst der Wähler, in diesem Jahr stand die Wahl des Oberbürgermeisters an. Der auf Sauberkeit im weitesten Sinne bedachte regierende Bürgermeister der CSU hatte während seiner ersten Amtszeit die Münchner Innenstadt zuerst von Bettlern und Straßenmusikern und dann vom horizontalen Gewerbe gesäubert. Eine Amtshandlung, die die Spider Murphy Gang in »Skandal im Sperrbezirk« verewigte. Und weil Bier in München das erwähnte hoch- emotionale Thema ist und der Streit darüber, wie viel Bier eine Maß enthalten solle, nie wirklich beigelegt werden konnte, erkor der wahlkämpfende Bürgermeister zusammen mit seinem Unterstützer Rudolf Strangassinger vor der ersten ausgeschenkten Maß auf der Wiesn das korrekte Einschenken zum Wahlkampfthema Nummer eins. Am ersten Wiesntag fanden unmittelbar nach dem

»Ozapft is« um Punkt 12 Uhr die ersten Kontrollen statt. Rudolf Strangassinger und seine Helfer postierten sich mit Stückzahlmessern auf den Balkonen der Zelte und beobachteten von dort aus die Arbeit an den Schänken. Insbesondere das Festzelt des in der Kritik stehenden Wirtes Bierbichler stand im Zentrum der Ermittlungen und das skandalöse Resultat wurde auf einer Pressekonferenz am Montagmorgen der Öffentlichkeit mitgeteilt: Aus einem 152 Liter fassenden Hirschen flossen 198 Maß Bier. Die Münchner Trinker waren hell empört, die Medien prägten den Begriff der »Skandalwiesn« und der betroffene Festwirt stellte Strafanzeige wegen übler Nachrede.

Der durch diesen Erfolg euphorisierte Bürgermeister hatte aber noch nicht genug. Er wollte dem betrogenen Wahlvolk seine Tatkraft unter Beweis stellen und hatte einen Trumpf in der Hinterhand. Noch am selben Tag stürmte eine 40 Mann starke Polizeitruppe das Festzelt Bierbichlers, um die Papiere der über 300 Bedienungen, Spüler und Ordner zu prüfen. Sie stellten fest, dass 23 Hilfskräfte keine gültigen Arbeitsgenehmigungen hatten.

Es war die Stunde von Rudolf Strangassinger, der wiederum selbst um sein Fortkommen in den Amtstuben des Rathauses buhlte. Sich der Dankbarkeit des Bürgermeisters gewiss, verordnete er, dass durch die fehlenden Gesundheitszeugnisse der Beschäftigten in Bierbichlers riesigem Festzelt von einer erheblichen Gesundheitsgefährdung für die Bevölkerung auszugehen sei und dass das Zelt unverzüglich geschlossen werden müsse. Sofort kam es zu einem Massenansturm auf die Wiesn. Die Münchner wollten noch schnell ihre Hendl- und Biermarken einlösen. Obwohl der sogenannte »Bazi«, ein Menschenschlag, der Wege am Gesetz vorbei findet, in München hohes Ansehen genießt, obwohl »a bisserl was immer geht«, hörte beim Bier der Spaß auf. Der betroffene Wirt fiel bei den Münchnern in Ungnade. Schankbetrug – eine Todsünde, für die es keine Vergebung gab. Ein Bittgesuch Bierbichlers an den Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß verhallte ungehört. Schließlich musste er während der laufenden Wiesn seinen legendären Biertempel auf dem Oktoberfest schließen. Immerhin blieb sein reguläres Wirtshaus in der Münchner Innenstadt von weiteren Amtshandlungen verschont. Recht und Ordnung hatten in München gesiegt. Vorerst.

Im Jahr darauf feierte das Oktoberfest sein 175-jähriges Bestehen. Die Sonne strahlte seit Wochen vom Himmel und die Münchner waren sich sicher, dass es Petrus wegen des Jubiläums besonders gut mit ihnen meinte. Obwohl man vom bis heute ungeschlagenen Rekord-Besucherandrang noch nichts ahnte, sprach man nach der schändlichen Skandalwiesn im letzten Jahr schon im Vorfeld von einer »Rekordwiesn«. Rekord war auch der Bierpreis von 6 Mark 30 pro Maß, der natürlich wieder für helle Aufregung in der Bevölkerung sorgte. Allerdings kontrollierten in diesem Jahr 36 Mitarbeiter des Kreisverwaltungsreferats den Inhalt der Maßkrüge in den Festzelten und stellten kaum Beanstandungen fest. In den allermeisten Fällen bekamen die Wiesnbesucher das, wofür sie über sechs Mark bezahlten: einen ganzen Liter Bier.

Die Brüder Zlatko und Milan waren »Gastarbeiter« der zweiten Generation. Ihr Vater war zum Bau des Olympiageländes 15 Jahre vorher nach München gekommen und betrieb jetzt den Balkan-Grill in Neuhausen, berühmt für seine monströsen Fleischplatten und die sehnsuchtsvollen Lieder, die er dort zum Besten gab und in denen er von hohen Bergen, wilden Flüssen und schönen Frauen sang. Von schönen Frauen träumten Zlatko und Milan auch. Sie waren 18 und 20 Jahre alt und um bei den Mädls Eindruck zu machen, brauchten sie Geld. Das wollten sie in möglichst kurzer Zeit verdienen. Als Spüler auf der »Rekordwiesn«.

Stundenlang hatten sie an diesem ersten Wiesntag vor knapp 40 Jahren Maßkrüge in die großen Spülbecken getaucht und Teller in die dampfenden Spülmaschinen geschichtet. Die Sonne hatte den ganzen Tag auf das Stoffdach des Festzeltes gebrannt und kurz vor Schluss war es so unerträglich heiß in der Küche, dass ihnen der Schankkellner zwei gratis Radlermaßen hingestellt hatte. Drinnen im Mittelschiff rund um das Podium mit der Blasmusi grölte die Menge »I will ham nach Fürstenfeld«.

Zlatko und Milan hatten sich den ganzen Abend lang Speed reingezogen und es mit Hochprozentigem in einer heimlich mitgebrachten Flasche abgefedert, als Zlatko die Nerven verlor.

»So a Schufterei für nix«, schrie er den Vorarbeiter an, der ihm zur Antwort eine Kopfnuss verpasste, sich umdrehte und weiterarbeitete.

Zlatko erstarrte. »Das lassen wir uns nicht gefallen«, blaffte er.

Der Kopfnussausteiler sah ihn streng an. »Brauchst morgen nimma kemma«, kommentierte er. »Warten g’nug andere auf dein’ Job!«

Das war zu viel für Zlatko. Weil sein vernebeltes Hirn ihm nichts Besseres einflüsterte, fegte er eine Reihe von Maßkrügen vom Spültisch. Der Krach übertönte sogar die scheppernde Blasmusik und das gesamte Küchenpersonal fror für eine Sekunde in seinem hektischen Ablauf ein. Mit weit aufgerissenen Augen kam der Vorarbeiter auf Zlatko zu. Im Zelt stimmte die Kapelle »Sag beim Abschied leise Servus« an und wie auf Kommando nahmen Zlatko und Milan Reißaus. Sie schlüpften durch die nächstgelegene Öffnung der Zeltwand und rannten los.

»Schaut’s, dass weida kemmt’s!«, hörten sie ihren Ex- Chef noch rufen. Nachdem sie um die Ecke gebogen waren, brachen die Brüder in wildes Gelächter aus.

Es war Nacht, die Straßen auf der Festwiese füllten sich mit den nach dem Zapfenstreich hinauskomplimentierten Bierzeltgästen und die blinkenden Fahrgeschäfte erwarteten mit aufgedrehter Musik die angeheiterten Massen zu den letzten Runden. »Hereinspaziert! Auf geht die wilde Fahrt!« Der Dreier-Looping war, neben dem Bier natürlich, die größte Attraktion der diesjährigen Wiesn.

»Zur Krinoline«, schlug Milan vor. »Da sind die Weiber.«

Tatsächlich lehnten dort am Treppengeländer zwei Mädls, die in Netzstrümpfen und mit riesigen Kreuzen um den Hals auf »Madonna« machten. Sie posierten, als hätten sie auf Zlatko und Milan gewartet. Schnurstracks steuerte Zlatko auf eines der Mädchen zu.

»Immer fit für den nächsten Ritt, die schönen Frauen!«, lallte er und griff mit beiden Händen an Madonnas Brüste.

»Hey, du Arsch!«, wehrte die sich und schubste Zlatko weg. Einen Moment lang grinste er seinen Bruder an, dann rannte er erneut los. Milan, der eine weitere Sekunde lang blöde glotzte, fetzte hinterher. Quer über die Wirtshausstraße, durch die vielen Menschen hindurch, die »Pass doch auf, du Depp!« hinter ihnen herriefen. Irgendwann hinter den Festzelten und abseits vom Betrieb auf den Fußgängerstraßen der Theresienwiese stoppte ein grasbewachsener Hang die Flucht der Brüder. Während sie schnaufend und wild um sich blickend zu Atem kamen, bemerkten sie, dass sie nicht allein waren. Die trockengelegten Festbieropfer torkelten grölend aus den hinteren Ausgängen der Festzelte, aus denen der Lärm von Tischrücken und Gläserklirren klang. Ein einsamer Besoffener erklomm stumm auf allen vieren den Hügel am Rand des Festgeländes. Weiter oben schlief ein Ohnmächtiger lang ausgestreckt seinen Rausch aus. Unten am Hang saß ein Langhaariger auf seinem Hintern im Gras. Er hatte den Aufstieg zur Straße nicht geschafft. Sein Kopf war auf seine Brust gefallen und seine Hippiemähne verdeckte sein Gesicht. Dennoch hielt er sich, die Hand fest um einen leeren Maßkrug auf dem Boden neben sich, aufrecht. Zwei torkelnde junge Männer fühlten sich von seinem Anblick offensichtlich provoziert.

»Hey, du Gammler«, lallten sie und versuchten, ihn umzuschubsen. Es gelang ihnen nicht, ohne selbst die Balance zu verlieren. Da entdeckte Milan etwas noch Spannenderes. Oben auf dem Hang im Halbdunkel bei einem großen Busch bewegte sich was. Er stupste Zlatko an und deutete darauf.

»Da ficken zwei«, flüsterte er.

Zlatko prustete los. »Die werden sich sauber erschrecken!«, sagte er, als er sich beruhigt hatte, und legte einen Finger an die Lippen. Mit allerlei Armgefuchtel zeigte er seinem Bruder an, was er vorhatte: Er plante, seitlich den Hang hochzukriechen und sich von oben an das Paar her- anzuschleichen. Die beiden grinsten sich an und krabbelten wortlos den Hügel hoch. Oben angekommen, sahen sie genauer, was vor sich ging. Er lag auf ihr, die Hose an den Knien, und war voll in Fahrt. Wie eine Katze auf Mäusejagd schlich sich Zlatko gebückt Richtung Liebeslager, obwohl ihn die Lustrauschigen auch nicht bemerkt hätten, wenn er mit Trommelwirbel heranmarschiert wäre. Milan sah ihm von oben aus zu und klatschte in der Vorfreude leise in die Hände. Da schrie Zlatko auf.

Gleichzeitig fiel er auf seinen Hintern und bewegte sich erschrocken auf allen vieren rückwärts. Weg von diesem Anblick. Das Pärchen fuhr auseinander, raffte blitz- schnell die Klamotten über die Körpermitte und stolperte in unterschiedlichen Richtungen den Hang hinunter. Milan war inzwischen bei Zlatko angekommen, der immer noch auf seinem Hintern saß und bebend auf etwas deutete, was auf der anderen Seite des Buschs war. Da lag ein Mann. Auf dem Rücken, mit weit gespreizten Armen und Beinen. Sein weißes Hemd sah aus, als hätte man es mit schwarzer Lackfarbe übergossen. Und in seiner Brust steckte, aufrecht in den Nachthimmel ragend, ein dreizackiger Hendlspieß.

Zwei Stunden später war der gesamte Hügel mit den weiß- roten Bändern der Polizei abgesperrt. Ein paar Uniformierte standen Wache, während sich Polizisten in Zivil und Sanitäter in Weiß am künstlich ausgeleuchteten Tatort zu schaffen machten. Es war nach Mitternacht, die Zelte waren geschlossen und wirkten auf dem leer gefegten Gelände wie riesige Gespensterhäuser. Nur ein paar übrig gebliebene Neugierige standen entfernt hinter den Absperrmarkierungen.

Es war Stadtrat Strangassinger, der hier in seinem Blut lag. Der oberste Eichstrichwächter Münchens und Hüter der korrekt eingeschenkten Wiesnbiermaß lag tot auf dem sogenannten Rauschberg, einer Anhöhe am Rand der Theresienwiese, an der die Trinker des starken Oktoberfest- biers auf ihrem Nachhauseweg in Scharen scheitern. Er war mit einem der Hendlspieße, an denen die berühmten Wiesnhendl gegrillt werden, erstochen worden.

Wegen der »Tatwaffe Hendlspieß« wurden alle Mitarbeiter der Festzelte als vorläufig Tatverdächtige bis in die frühen Morgenstunden auf dem Gelände festgehalten und befragt. Es wurden Fingerabdrücke an der Mordwaffe sichergestellt, aber keine der Spuren am Leichenfundort konnte einem der Beschäftigten zugeordnet werden. Aufgrund der satten Geldbußen, die im letzten Jahr wegen illegaler Arbeitskräfte verhängt worden waren, erwähnte die abgetauchten Putzhelfer niemand. Einer der Küchenmitarbeiter des Festzeltes, hinter dem der Mord geschah, sagte aus, es wäre in der Hektik seines Berufes nicht ungewöhnlich, wenn ein paar Hendlspieße irgendwo herumlägen.

Unterhalb der Bavaria stand ein Sanka mit lautlosem Blaulicht und daneben eine grüne Minna mit offenen Türen. Darin saßen Zlatko und Milan. Kreidebleich, stocknüchtern und schweigend. Sie waren zuerst fluchtartig weggelaufen, hatten sich dann kurz beratschlagt und zwei Männer der Wiesnpolizei angesprochen, die seit dem Bombenanschlag auf dem Festgelände vor fünf Jahren verstärkt patrouillierten. Vor einer halben Stunde hatte ein Beamter die Personalien von Zlatko und Milan aufgenommen und sie zum Warten verdonnert. Für etwaige Ermittlungen. Bisher hatte niemand weitere Fragen an sie gehabt. Aber den beiden war ohnehin nicht danach, sich ins Bett zu legen.

Am nächsten Morgen gab es in München nur ein Thema: Die schöne Rekordwiesn war nach der Skandalwiesn vom Vorjahr nun zur Mordswiesn geworden.

(…)